DER LETZTE BISS

Mit Hightech gejagt, in Käfigen gemästet, zu Sushi zerlegt: Der majestätische rote Thun ist vom Aussterben bedroht. Erschienen im Greenpeace Magazin, 2010.


Es ist einer der ersten wirklich heißen Junitage vor Malta. In den internationalen Gewässern südlich der Mittelmeerinsel setzen die „Rainbow Warrior“ und die „Arctic Sunrise“ ihre Schlauchboote auf die azurblaue Wasseroberfläche des Mittelmeers, während ein Greenpeace-Hubschrauber über ihnen kreist. Mit der nötigen psychischen Anspannung, die ein solcher Einsatz naturgemäß erfordert, besteigen die Aktivisten ihre Schlauchboote, unter ihnen ist auch Frank Hewetson. Er beabsichtigt, Sandsäcke auf das Ringwadennetz zu werfen, um die Jagd des französischen Fischerbootes zu sabotieren und den Fischen die Flucht zu ermöglichen.

Ihre Boote nehmen rasant Tempo auf, um den Fang eines Schwarms von Thunfischen aus den Netzen des französischen Trawlers „Jean-Marie Christian VI“ zu befreien. Der Rote Thun, auch Blauflossenthun genannt, gehört zu den teuersten Fischen, weil sein Fleisch für Sushi begehrt ist. Für ein ausgewachsenes Tier wurden auf dem Fischmarkt in Tokio schon bis zu 135.000 Euro bezahlt. In den Weltmeeren ist er inzwischen auf dramatische Weise überfischt: Nach einem Bericht der UN-Ernährungs-und Landwirtschaftsorganisation (FAO) sind sieben der 23 kommerziell gejagten Thunfischbestände überfischt oder maximal ausgebeutet. Die Bestände von weiteren neun Arten sind ernsthaft bedroht. Am Schlimmsten steht es dabei um den Blauflossenthun. Thunnus thynnus kann bis zu drei Meter lang werden, mehr als 500 Kilogramm wiegen und lebt hauptsächlich im Mittelmeer und Nordatlantik.

Auch vor Malta ist die Zahl der Blauflossenthune auf dramatische Weise geschrumpft. Wie bei solchen Einsätzen üblich, setzt ein wildes Durcheinander ein, als die Boote der Umweltschützer die der Fischer erreichen. Die Trawler versuchen, trotz der Protestaktion an ihrem Vorhaben festzuhalten: Ein großes Schiff lässt das eine Ende des Großnetzes ins Wasser, kleinere Schnellboote kreisen den Schwarm ein, um das Netz am anderen Ende zuzuziehen.

Es muss ungefähr in diesem Moment gewesen sein, als der Kapitän der „Jean-Marie Christian VI“ seinen abenteuerlichen Funkruf aussendet: „Mayday, wir werden von Piraten attackiert!“ Mehrere Fischerboote in dem Gebiet eilen zu Hilfe, obwohl sich die Aktivisten von Greenpeace per Funkspruch über Ultrakurzwelle als Umweltschützer zu erkennen geben. Der Eigner der „Jean-Marie Christian VI“, Jean-Marie Avallone, sagte später, die Aktivisten seien mit „Messern und Zementblöcken“ bewaffnet gewesen. Ihre „angeblich friedliche Operation“ sei nichts anderes als eine „Räuberattacke“.

Bevor Hewetson sein Vorhaben umsetzen kann, rammt eines der französischen Boote sein Schlauchboot. Einen kurzen Moment später spürt er einen Schlag am Bein. „Zuerst dachte ich, sie hätten mir ein Seil ums Bein geworfen, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen“, berichtet er später im Krankenhaus. Doch dann habe er an sich hinunter geschaut: Ein Fischer hatte ihm einen dreizackigen Haken ins Bein gestochen und Knochen und Wadenmuskel erwischt. Inzwischen hatten andere Fischer zwei der sieben Greenpeace-Schlauchboote mit Messern aufgestochen und versenkt, während ein anderer ein Leuchtgeschoss in Richtung Hubschrauber abfeuerte. Dann beschlossen die Aktivisten, den Protest aufzugeben. Die Fischer der „Jean-Marie Christian VI“ transportierten ihren noch lebenden Fang in einen Käfig und schleppten ihn ab. Schon bald würden diese Fische in Gehegen gemästet und schließlich nach Japan exportiert werden.

Nach Angaben des japanischen Fischereiministeriums wurden im vergangenen Jahr rund 52.000 Tonnen Blauflossenthun – also 80 Prozent des weltweiten Fangs – in Japan verspeist. Dort findet sich Thunfisch auf den Speisekarten unzähliger Sushi-Restaurants. Durch ihre langen Wanderungen in den Ozeanen bilden die Tiere besonders festes und muskulöses Fleisch. Blauflossenthunfische beschleunigen auf bis zu 70 Kilometer pro Stunde und können die Körpertemperatur erhöhen, um auf diese Weise die kalte, subpolare See zu durchqueren. Die Ausrottung dieses wundervollen und mystischen Meerestieres steht symbolisch für den zügellosen Appetit des Menschen, der die Bestände der Meere zerstört. Inzwischen fischen wir jedes Jahr mehr Wildfisch und Krustentiere aus den Ozeanen, als die gesamte Bevölkerung Chinas auf die Waage bringen würde.

Um den weltweiten Fischbedarf zu decken, ist die Fischerei schon lange von den Küstengewässern der Länder auf die staatenlose Hochsee ausgeweitet worden, die in der Regel jenseits der 200-Meilen-Hoheitszone beginnt. In der Hochsee ist der Fischfang nach Studien des Fisheries Center der Universität von British Columbia in den letzten 50 Jahren um 700 Prozent gewachsen. Einen großen Anteil daran hat die Jagd auf den Blauflossenthun. Weil er größtenteils in internationalen Gewässern gefangen wird, fällt er meist unter das vergleichsweise „weiche“ internationale Recht. Dies ist einer der Gründe dafür, dass es in den letzten Jahrzehnten zu einer Art Goldrausch um den Roten Thun gekommen ist. Verantwortlich dafür waren in erster Linie die japanischen Fischfangflotten, aber auch der globale Siegeszug der Sushi-Gastronomie.

Die Luxusrestaurantkette Nobu gehört in diesem Segment zu den exklusiven Adressen. Sie unterhält derzeit 19 Dependancen, unter anderem in Los Angeles, New York, London und Melbourne. Im Rahmen einer Kampagne zum Schutz des Blauflossenthuns hat Greenpeace Großbritannien einem der Miteigner geschrieben und ihn aufgefordert, den Roten Thun aus Rücksicht auf die Fischbestände in seinen Restaurants nicht mehr anzubieten. „Wir befinden uns in einer prekären Situation“, antwortete Ritchie Notar. „Es geht um kulturelle Bräuche, die in Japan tausende Jahre alt sind. Wir haben Verständnis für die Ziele Ihrer Organisation, aber wir sehen uns außerstande, einen plötzlich zur bedrohten Art erklärten Fisch sofort von der Karte zu nehmen.“

Natürlich sind Restaurants wie das Nobu nicht allein verantwortlich für die dramatische Situation des Roten Thuns. Viele Länder haben zu dem Desaster beigetragen: Die Europäer jagen exzessiv, sie betreiben auch die meisten Farmen. Die USA erlauben noch immer die Jagd von Blauflossenthun in ihren Gewässern, obwohl die Bestände im Golf von Mexiko massiv bedroht sind und sich ihre Lage durch die Ölpest nach dem Untergang der BP-Ölplattform „Deepwater Horizon“ noch weiter verschlechtert hat. Doch Japan als der größte Importeur von Blauflossenthun hat von allen die aggressivste Position eingenommen, auch unterstützt von Gastronomen wie Ritchie Notar, der eine angebliche kulinarische Tradition des Landes beschwört – obwohl sie nicht so alt ist, wie er behauptet.

In seinem Buch „The Story of Sushi“ schreibt Trevor Corson, dass in Japan während der Edo-Zeit (1603 bis 1868) Fische mit weißem Fleisch bevorzugt wurden. Thunfisch war dagegen als minderwertig verpönt. Erst ein riesiger Fang vor 170 Jahren brachte den Durchbruch auf dem japanischen Markt. Bis in die 1930er-Jahre galt Thunfisch noch als eher gewöhnlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg steigerten die Fischer ihre Fänge, um den nationalen Bedarf an Nahrungsmitteln zu befriedigen, aber auch um die Nachfrage der zunehmend wachsenden Konservenindustrie in Europa und den USA zu sättigen.

Durch den Fischereiboom angetrieben perfektionierte die japanische Industrie Netze und Fangtechniken. In den 70er-Jahren entwickelte sie leichte und kräftige Treibnetze, die über viele Meilen ausgeworfen werden konnten. Durch diese Netze war man plötzlich in der Lage, Fische sogar in entlegenen Gebieten zu jagen. Mittels moderner Gefriertechnik konnte der Fang an Bord lange frischgehalten werden. Nun stellte man den Fischen mit immer größeren High-Tech-Schiffen nach: Ein modernes Langleinenfischerboot konnte sein bis zu 100 Kilometer langes Fanggeschirr maschinell mit 30.000 Angelhaken bestücken. Mit den Thunfischen schnappten allerdings auch Hunderttausende von Haien, Delfinen, Schildkröten und Seevögel zu und verendeten. Zwar verbot die UN 1991 den Einsatz von Treibnetzen, doch Ausnahmeregelungen ermöglichten im EU-Raum ihren Einsatz noch lange danach. 2008 wurden sie dann ausnahmslos verboten.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Bestände der großen Thunfischarten wegen des unersättlichen Bedarfs der Konservenindustrie und des unbändigen Appetits auf Sushi in Japan und in vielen Ländern des Westens schon lange dramatisch gefährdet. Besonders sensibel reagierte der Rote Thun auf den steigenden Fischfang. Bis in die 60er-Jahre gab es noch Schwärme in der Nordsee, zuweilen 60 bis 70 Seemeilen vor Helgoland. Sie zogen nach dem Ende der Laichzeit aus dem Atlantik dorthin und blieben bis in den Spätherbst, um Heringe und Makrelen zu jagen. Vor den Küsten Brasiliens ist der Bestand Ende der 70er-Jahre auf radikale Weise dezimiert worden. Ganz ähnlich erging es dem Nordpazifischen Blauflossenthun, der zwischen Kalifornien und Japan verbreitet ist, und dem Südlichen Blauflossenthun in den Gewässern um Australien.

Seit vielen Jahren rufen Naturschutzorganisationen weltweit dazu auf, den Blauflossenthun zu schützen. Doch die Kampagnen der letzten Jahrzehnte haben weder das Verhalten der Konsumenten verändert, noch die regionalen Fischereimanagement-Organisationen zum Einlenken bewegt. Denn diese Institutionen, die die Fangmengen festlegen, streben nach politischem Konsens und treffen ihre Entscheidungen meist nach den Regeln des politischen Kuhhandels, aber nicht auf Grundlage wissenschaftlicher Kriterien: Im Jahr 2008 beschloss die Kommission zum Schutz des Atlantischen Thunfischs (ICCAT) etwa doppelt so hohe Fangquoten für den Blauflossenthun als von Wissenschaftlern empfohlen. Im November 2009 machten Umweltorganisationen auf das miserable Fischereimanagement der ICCAT aufmerksam und forderten ein Fangverbot, um das Aussterben des Blauflossenthuns zu verhindern. Die ICCAT aber lehnte ab.

Mitte März 2010 fand in Doha die 15. Konferenz der Unterzeichner des Washingtoner Artenschutzübereinkommens (CITES) statt. Dieses Abkommen wurde 1973 ins Leben gerufen, um den Handel mit bedrohten Arten zu begrenzen oder gänzlich zu verbieten – bis heute sind mehr als 8000 Tier-und rund 40.000 Pflanzenarten darin aufgenommen worden. Die 2000 Teilnehmer konnten sich nach zweiwöchigen Verhandlungen nicht auf ein vorübergehendes Verbot des Handels mit Blauflossenthun bis zur Erholung der Bestände einigen. Doch wie ernst haben die Vertragsstaaten ihre Verpflichtungen zum Schutz der biologischen Vielfalt tatsächlich genommen? Und wie stark haben sie sich dabei von Japan beeinflussen lassen, das die CITES-Verhandlungen ähnlich wie die der Internationalen Walfangkommission IWC massiv blockierte?

„Eine Tierart, die in dieses Übereinkommen aufgenommen wird, kann so gut wie niemals mehr ausgeschlossen werden. Die Vereinbarung ist zu unflexibel“, begründete Masanori Miyahara, Direktor der Fisheries Agency of Japan, die Position des Landes gegen die Aufnahme des Roten Thuns. Allein mit dem Roten Thun werden nach Berechnungen des WWF jedes Jahr 800 Millionen Euro umgesetzt. Deshalb hatte die japanische Delegation im Vorfeld der Konferenz alle diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt, um die notwendige Zweidrittelmehrheit zu verhindern, die den Blauflossenthun auf die Artenschutzliste gebracht hätte.

Um die Nachfrage nach Rotem Thun zu befriedigen, setzt Japan auf diverse Strategien. Seit Jahren wird dort an einer wirtschaftlich nutzbaren Zucht des Fisches geforscht. Führend darin ist die Privatuniversität Kinki bei Osaka: Nach 32 Jahren Forschung gelang es Wissenschaftlern dort erstmals im Jahr 2002, einen gesunden Blauflossenthunfisch aus künstlich befruchteten Eiern zu züchten. Frühere Versuche scheiterten – die geschlüpften Exemplare reagierten panisch auf Geräusche und Licht oder fraßen sich gegenseitig. Erst die Erweiterung des Geheges auf 30 Meter Durchmesser und die verbesserte Ernährung der Thunfische führte schließlich zum Erfolg. Im Jahr 2004 lieferte die Universität die ersten Exemplare an Sushi-Restaurants. Mittlerweile produziert die Uni Kinki 60 Tonnen Blauflossenthun pro Jahr – die teuren, im Labor gezüchteten Tiere decken nur einen winzigen Bruchteil des Marktes.

Seit den 90er-Jahren werden deshalb auch wildgefangene Thune in Käfigen gemästet. Dafür werden Jungtiere, wenn sie kaum länger als 30 Zentimeter sind, in der Natur gefangen und in Fischfarmen bis zur Schlachtreife grßgezogen. Aber auch diese Methode ist sehr aufwendig, weil die Fische mit Ultramarathonläufern zu vergleichen sind – sie verbrauchen große Mengen Energie, fressen viel und legen dennoch kaum an Gewicht zu. Züchter müssen etwa 15 Kilo Futterfisch investieren, um ein einziges Kilogramm Thunfisch zu produzieren. Das ist zehnmal mehr als für die gleiche Menge Lachs verfüttert werden muss.

Inzwischen bezieht Japan rund ein Fünftel seines Bedarfs an Rotem Thun aus Fischfarmen. Rund 400.000 der vor allem im Mittelmeer gezüchteten Thune landen jährlich auf den Fischmärkten Japans. Durch diese Praxis wird allerdings die Fortpflanzungsfähigkeit der Art massiv herabgesetzt, da komplette Generationen junger Thunfische gefangen werden und für die Vermehrung fehlen. Auch dagegen richtete sich der Protest von Greenpeace vor Malta.

„Sie haben unsere Ozeane in den Bankrott getrieben“, hatte Oliver Knowles, Meeresexperte bei Greenpeace International, der Presse vor der Protestaktion gesagt. Seit langem ruft die Umweltschutzorganisation deshalb zu einer radikalen Reform der Gesetze über die Hochseegebiete auf: Greenpeace fordert, 40 Prozent der Weltmeere unter Schutz zu stellen. Geht es nach der Umweltorganisation, soll in diesen Gebieten – an Küsten sowie auf hoher See – keine industrielle Fischerei mehr erlaubt sein, und auch keine Öl-und Gasförderung wie etwa im Golf von Mexiko. Die Ölpest könnte sich dort desaströs auf die Reproduktion des Roten Thuns auswirken, weil sich die Katastrophe ausgerechnet in einem der beiden großen Laichgebiete abspielte. Normalerweise laichen die Schwärme dort im Mai und Juni. Öl und Chemikalien haben dieses Jahr möglicherweise die Brut empfindlich dezimiert. Dies berichtete zuletzt ausgerechnet das Wirtschaftsmagazin Bloomberg Businessweek. Die Branche reagierte nervös.

Selbst die Thun-Händler auf dem Fischmarkt von Tokio fürchten inzwischen das Ende des jahrzehntelangen Goldrauschs. Ihr Beruf gilt als hohe Kunst: Sie müssen den Wert der Fische, die mit einem Eismantel überzogen sind, anhand des äußeren optischen Eindrucks schon vor der Auktion abschätzen. Der Job ist hoch dotiert. Die Thunfisch-Kenner verdienen bis zu 16 Millionen Euro im Jahr.

Wenn es um so viel Geld geht, ist der Thunfisch nichts weiter als ein begehrter Rohstoff, eine Ware, von der man nicht genug kriegen kann. Vergessen wird dabei, dass Rote Thune zu den wundervollsten Kreaturen der Ozeane zählen und ihr Fortbestand auf dem Spiel steht.