HANG zur KATASTROPHE

Nichts in Italien erreicht man auf normalem Weg, nicht einmal die normalen Dinge. Oft muss es erst zu Unglücken kommen, bevor sich die normalen Dinge ändern. Ändern sich die normalen Dinge dann, enden damit nicht die Unglücke. Erschienen in Reportagen, Schweiz 1.22, https://reportagen.com/

Katastrophen in Kampanien beginnen oft mit einem harmlosen Nieselregen, einem Regen, der kaum wahrzunehmen ist, so erwartbar kommt er im Herbst daher, dass die Bewohner der Sorrentinischen Halbinsel, die zu den gelassensten Italiens gehören, gelangweilt die Regenschirme aufspannen, um weiter ihrem Tagewerk nachzugehen, bis der zarte Nieselregen sich im Laufe eines Tages in einen penetranten Bindfadenregen verwandelt und sie also irgendwann nicht umhin kommen, die Sturheit dieses Regens persönlich zu nehmen. Viele sichern ihre Autos, Landmaschinen und Gartenmöbel in ihren Garagen. Manche fangen an zu beten.

Die Frage, ob Gebete gegen Unglücke helfen, kann ein Mann beantworten, der in Italien als Legende gilt. Roberto Robustelli ist Zweiter Bürgermeister von Sarno, einer Stadt in der Metropolebene des Vesuvs. Robustelli nimmt seine Pantos-Sonnenbrille ab, als er in den Plenarsaal des barocken Rathauses tritt. Er trägt blauen Wollmantel, blauen Schal, braune, geschnürte Lederschuhe. In Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hat er das Mundstück einer E-Zigarette. In seiner Jugend hat er viele Sommer an den Stränden der Amalfiküste verbracht, die eine Autofahrt von etwas mehr als einer Stunde von Sarno entfernt ist. Heute arbeitet der 46-jährige Robustelli als Lehrer an einer Schule für Design und Kommunikation in Neapel. Als Teilzeitbürgermeister von Sarno ist er verantwortlich für den Zivilschutz seiner Stadt.

Sarno hat 31.000 Einwohner und liegt in einer Ebene am Fuss des 1200 Meter hohen Gebirgsmassivs Pizzo Alvano. Das Becken wurde seiner Fruchtbarkeit wegen in der Bronzezeit besiedelt. Der gleichnamige Fluss Sarno fliesst durch das 700 Quadratkilometer grosse Gebiet mit seinen verzweigten Läufen. Die als besonders fruchtig geltende Tomate aus San Marzano wird hier grossflächig angebaut. Sarno hat aber nicht viel mit den pittoresken Träumen von Italienliebhabern zu tun. Hier kommt vieles von dem zusammen, was die hässlichen Seiten des Landes ausmachen: es ist das Italien der Hausruinen, der heruntergekommenen Betonputzfassaden, der herumfliegenden Plastikflaschen, des löchrigen Asphalts.

Umgeben von Ölgemälden sitzt Robustelli im Plenarsaal und fragt sich, wie dieser windige Oktobertag enden wird. Vor wenigen Augenblicken hat er vom Nationalen Zivilschutz in Neapel eine Sturmwarnung erhalten und damit die Empfehlung, Schulen und Kindergärten zu schliessen.

Kündigt sich einer der ersten Herbststürme an?
Sollte er die Alten lieber vorsorglich aus ihren Häusern holen lassen?
Müssten nicht auch die Bewohner im Ortsteil Episcopio rechtzeitig informiert werden, damit ihnen nicht zustösst, was ihm 1998 widerfahren ist?


Robustelli wurde damals von einer Schlammlawine mitgerissen, die durch Erdrutsche ausgelöst wurde. Er überlebte wie durch ein Wunder. Und weiss seither trotzdem, was es heisst, ein Leben zu verlieren. Kann Robustelli also den Kindern von Sarno jenen Tribut ersparen, den er selbst für die Untätigkeit von Politikern zahlen musste, zu deren Berufsstand er nun selbst gehört? Eine vorschnelle Warnung würde womöglich Chaos und teure Evakuierungen auslösen.

Was also ist zu tun?

Erst Mal E-Zigarette rauchen, die dritte in 15 Minuten. Es könnte sein, dass sich dieser mächtige Wind bis zum Nachmittag verzieht und er nach Hause kann, um sich um seine beiden Kinder zu kümmern. Doch was, wenn der Wind Regen bringt, viel Regen? Kaum eine Region Italiens ist dem Herbstregen so ausgeliefert wie die Sorrentinische Halbinsel. Trifft der Regen auf die geologische Zerbrechlichkeit Italiens, wird es gefährlich. Neben Liguriens Küste und dem Aostatal, beide im Norden des Landes, gilt Kampanien als eine der fragilsten Regionen des Landes. Schon die leichtesten Erschütterungen des 30 Kilometer entfernten Vesuvs, können in Sarno verheerende Schäden anrichten. Italien gehört zu den Ländern Europas, die am stärksten durch Erdbeben gefährdet sind. Von Süden schiebt sich der afrikanische Kontinent um einen Zentimeter pro Jahr nach Norden. Die Alpen heben sich um einen Millimeter pro Jahr. Von Osten schiebt die Adriatische Platte und faltet den Apennin auf. Vom Westen bewegt sich die Europäische Platte mit drei Millimeter pro Jahr auf Italien zu. Italien bekommt Druck aus allen Richtungen.

Der Mann mit zwei Herzen und sieben Lungen:
Roberto Robustelli, Fotograf, Bürgermeister, Überlebender
der Erdrutschkatastrophe von Sarno 1998. © Vito Avantario

Man muss sich den Boden des Landes als ein zersplittertes Plateau vorstellen. Schon leichte Erschütterungen können vielerorts fatale Erdrutsche auslösen. Italien besteht zu zwei Dritteln aus Berg- und Hügelland, das anfällig für Überschwemmungen und Schlammlawinen ist. In der Datenbank IdroGeo sind 640.000 Hänge und Hangabschnitte mit Rutschgefahr verzeichnet. Laut Umweltministerium sind fünf Prozent der Landesfläche erdrutschgefährdet.  Rund acht Millionen Italiener sind dadurch potenziell bedroht.

In Kampanien sind die Böden durch die extreme Hitze des Sommers ausgetrocknet, wenn sich das erste Regenwasser des Herbstes mit dem pyroklastischen Oberflächenmaterial des Vesuvs verbindet. Es war bei Vulkanausbrüchen aus dem Erdinnern an die Erdoberfläche gelangt und hat sich über Jahrtausende abgelagert. Verbinden sich die Sedimente mit dem Regenwasser, werden die Hänge Kampaniens schnell instabil. Schon kaum wahrnehmbare seismische Erschütterungen können die Böden dann ins Rutschen bringen.

Dabei geht nicht nur von den ersten Herbstregen eine Gefahr aus. Erdrutsche im Mai richten oft die grösseren Zerstörungen an, da die Böden über den Winter mit Feuchtigkeit gesättigt sind. Geraten die schweren, durchnässten Berghänge durch weitere Regenfälle oder Erschütterungen ins Rutschen, können sie gigantische Massen an Erde, Geröll und Vegetation mit sich tragen. Weil die Steilhänge des Pizzo Alvano, die hinter der Stadt aufragen, bei Regen anfällig für Erdrutsche sind, ist Sarno in Gefahr. Die Menschen vor Ort wissen das und sind doch Teil des Problems.

Roberto Robustellis Biografie hat zwei Teile. In seinem ersten Leben war er ein junger, abenteuerlustiger Mann mit wachen Augen, die Situationen schnell erfassen konnten. Nach seiner Ausbildung zum Fotografen wollte er weg aus den beengten Verhältnissen, in denen sich das Leben der pflichtbewussten Menschen von Sarno um drei Dinge dreht, Familie, Arbeit, Kirche. Also verbrachte er den Frühling in Sevilla.

Sein zweites Leben sollte am 8. Mai 1998 beginnen, im Alter von 24 Jahren. Sein Vater hatte ihn ein paar Tage zuvor in Sevilla angerufen und gesagt: „Roberto, mein Junge, die Familie vermisst dich sehr. Komm zurück.“ Robustelli flog nach Rom. Dort hätte er einen Anschlussflug nach Neapel nehmen können, entschied sich aber für die Zugfahrt. Vor seiner Heimkehr nach Sarno wollte er noch einmal den Blick auf den Golf von Neapel und den Vesuv aufsaugen. Am Nachmittag rollte der Zug in Sarno ein.

Im Mai legt die Sorrentinische Halbinsel, an deren Südseite die Amalfiküste verläuft, ihr erstes Sommerkleid an. Bergdörfer und Kleinstädte entlang der Küstenstrasse SS 165 wirken wie eine Anordnung von Aquarellen. „Wenn man diesen Ort entdeckt, möchte man ihn verstecken. Erzähle ich davon, wird er eines Tages mit Touristen überfüllt sein, die ihn ruinieren“, schrieb John Steinbeck 1953. Die Amalfiküste wurde bald zum Drehort vieler internationaler Spielfilme. „Schach dem Teufel“ mit Humphrey Bogart wurde hier gedreht, auch „Good Woman“ mit Scarlett Johansson. Mittlerweile haben auch Influencer Städtchen wie Positano als Kulisse für ihre Selbstvermarktung entdeckt. Das hat seinen Preis: Vor der Pandemie kamen auf die 25.000 Bewohner des Küstenstreifens rund 1,5 Millionen hauptsächlich ausländische Touristen. Wenn jedoch der Regen vom späten Herbst bis ins Frühjahr in all seinen extrovertierten Ausdrucksformen herunterkommt, sind all diese Gäste längst wieder Zuhause.

Es gibt den Konvektionsregen, der durch die Erwärmung bodennaher Luftmassen entsteht und als Schauer- oder Gewitterregen herunterkommt. Es gibt den Regen, den Mittelmeerstürme mit sich tragen. Er entlädt sich überfallartig über der gesamten Küste der Sorrentischen Halbinsel. Von allen Regenarten aber ist der Frontregen, der vom Meer kommt und sich als erst als vorübergehender Nieselregen tarnt, um sich dann doch in Bindfäden tagelang abzuseilen, die grösste Bedrohung. Seine Feuchtigkeit dringt in alles ein, in Felsspalten, Strassenritzen, Wandfugen, sogar in Hosenbeine, Schuhe und Nasenlöcher.

Einer dieser stoischen Bindfadenregen empfing Robustelli an jenem Nachmittag im Mai am Bahnhof von Sarno. Als er stadtauswärts Richtung Episcopio lief, floss ihm der Regen in breiten Rinnsälen entgegen. Er hörte das Gurgeln unter den Kanaldeckeln, so sehr hatte sich die altertümliche und schlecht gewartete Kanalisation von Sarno schon gefüllt. Dennoch konnte er dem Wasser, das unbeirrt vom Himmel fiel, in diesem Moment keine Gefahr beimessen. Meteorologen sollten später messen, dass am 4. und 5. Mai 120 und 140 Liter Regen pro Quadratmeter gefallen waren, was viel war, aber auch deutlich unter den historischen Höchstwerten für die Region lag. Robustelli dachte daran, wie sein Vater ihn in wenigen Minuten im Familienhaus in der Viale Margherita in die Arme schliessen würde.

Als Robustelli dort ankam, wo das Haus mit der Nummer 13 stehen sollte, war es bereits davongetragen. Seine Strasse, in der er früher mit den Nachbarsjungen Fußball gespielt hatte, war zu einem Strom aus Schlamm und Mauersteinen geworden. Häuser standen schief, Wände waren eingerissen, Autos fortgetragen. Wo war sein Vater? Wo waren Mutter und Bruder? Robustelli berichtet nun stakkatoartig, in kurzen Sätzen. Zwischendurch steckt er einen frischen Nikotinstick auf das Mundstück seiner E-Zigarette, noch ein schneller Zug.

Geschockt von den Eindrücken vor Ort, hatte er nicht bemerkt, dass eine weitere Welle aus Schlamm auf ihn zugerollt war. Sie riss ihm erst die Beine weg und trug ihn fort. Umgeben von Geröll, Steinen, Ästen, Autoteilen und Plastikflaschen fand er sich Minuten später im Kellergeschoss eines Hauses wieder, eingeklemmt unter einem Stahlträger, vermutet er, vielleicht war es auch ein Betonpfeiler. Den Geruch wird er nie vergessen: Es roch nicht, es stank nach Muttererde, sagt er, und nach allem, was italienische Familien in ihren Garagen lagern, Früchte, Wein, Öl, Essig.

Solange das Erdreich um ihn herum flüssig war, hatte er den Eindruck, sich noch befreien zu können. Er begann also nach allem zu greifen, was ihm Halt versprach. Doch ausser ein paar losen Ästen, Mauersteinen und Tieren, die er für Hühner hielt, bekam er nichts zu fassen. Er schrie. Doch niemand schien ihn zu hören. Als der Schlamm um ihn herum zu trocknen begann, fing Robustelli an zu beten.

In den Untersuchungsberichten der Regierung stand später, dass Sarno und seine Nachbarorte an diesem Tag von sieben Erdrutschen erschüttert wurden. Die zwei grössten hatten ein Volumen von rund zwei Millionen Kubikmetern. Eine der Wellen, die damals durch Sarno pflügte, soll sechs bis sieben Meter hoch gewesen sein. Die Fotos aus jenen Tagen ähneln den Aufnahmen, die im Sommer 2021 nach dem Jahrhundert-Hochwasser im deutschen Ahrtal entstanden sind. Es sind Fotos aus einem Katastrophengebiet.

„Italiener sind ganz gut im Bewältigen von Ausnahmesituationen, aber schlecht im Organisieren,“ sagt Robustelli. Im Foyer des Rathauses hat der Wind gerade ein Balkonfenster aufgestossen. Es knallt. Er öffnet die Tür des Plenarsaals und wirft einen Blick in den Flur im ersten Stock. Die Scheibe ist zersprungen. Er wählt eine Nummer auf seinem Handy und sagt: „Pronto? Ja, hallo, tu’ mir bitte einen Gefallen, das Balkonfenster ist hier oben zerplatzt, ruf’ den Glaser an, ok? Grazie.“ Klick.

Robustelli sei ein mit unglaublichem Lebenswillen ausgestatter Mann, sagen man die Leute in Sarno. Ein Mann mit zwei Herzen und sieben Lungen. Wie sonst hätte er drei Tage und drei Nächte in dem dunklen Loch weiteratmen können? Ein Baumstamm, eine Autostossstange, ein Kinderwagen, irgendetwas muss ihm damals, bevor er eingeschlossen wurde, gegen den Kopf geprallt sein. Seine Ärzte haben ihn nach seiner Bergung mit 300 Stichen zusammengeflickt. Robustelli hat heute eine Narbe über seiner linken Augenbraue.

Gesprengt, gebohrt, gebaut: 700.000 Menschen leben an den Hängen des Vesuvs, teilweise illegal. Na, und? Für die Öko- und Müllmafia Kampaniens ist das ein Riesengeschäft. © Vito Avantario

Die Anwohner des Vesuvs schliessen im Grunde jeden Tag eine Wette auf das Leben ab. Obwohl der Vulkan noch immer heftig ausbrechen kann, leben in der Metropolregion über 700.000 Menschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Gegend in einem Maße gesprengt, gebohrt und gebaut, das Naturschützer wie Michele Buonomo für unverantwortlich halten. Der 62-jährige ist Vorsitzender der Naturschutzorganisation Legambiente in Kampanien. Sie hat in Italien eine ähnlich grosse Bedeutung wie Greenpeace. Wir sind an einem kühlen und windigen Oktobertag im Caffé del Sole verabredet, einer Bar in der Nähe des Bahnhofs der Provinzhauptstadt Salerno. Buonomo kommt gerade aus Rom, wo er eine Kampagne gegen die italienische Ökomafia vorgestellt hat. Sie hat mit der illegalen Entsorgung von Haushalts-, Industrie- und Giftmüll laut Legambiente zuletzt 20 Milliarden Euro im Jahr verdient hat. Ein Espresso stretto mit braunem Zucker und das Gespräch über die italienische Bauwut in Gefahrenzonen beginnt.

Allerorten werde in Italien so getan, als seien Ökologie und Naturschutz die Entdeckungen des neuen Jahrtausends, sagt Buonomo. Nur das Geschäft mit Touristen und Immobilen dürfe davon bitte nicht betroffen sein. Allein in den Boomjahren von 1951 und 1991 hat sich die Einwohnerzahl am Vesuv fast verdreifacht, von 200.000 Menschen auf 583.000. Die Zahl der Bauten wuchs von 73.000 auf 176.000. Im gleichen Zeitraum schritten auch die Betonisierung der Sarno-Ebene und der Amalfiküste voran. Man versiegelte Böden, verengte und kanalisierte Flüsse, verbreitete Landstrassen und baute Autobahnen. Die Vereinigung der Italienischen Umweltgeologen (SIGEA) hat errechnet, dass Italien allein im Jahr 2020 zwei Quadratmeter Natur pro Sekunde versiegelt hat. Im Laufe eines Lebens werden für jeden Italiener im Schnitt 135 Quadratmeter Land betoniert.

In sensiblen Gebieten ist der Flächenverbrauch eine zentrale Ursache für Überschwemmungen und Erdrutschkatastrophen. Seit Jahren ruft Legambiente die italienischen Kommunen deshalb weitgehend erfolglos dazu auf, jeweils mindestens einen unabhängigen Geologen fest anzustellen. Sie könnten besser als Politiker beurteilen, welche Landstriche bebaut werden dürfen und welche man besser unberührt lässt. „Leider aber biegt man sich die Antworten auf ökologische und geologische Fragen so zurecht, wie man sie benötigt,“ sagt Buonomo. In der Praxis würden statt erfahrener Geologen lieber junge Vermessungstechniker in die Planungsverfahren eingebunden, die Infrastrukturmassnahmen und Hausbau betreffen. Sie brächten zwar ein geologisches Grundwissen mit. Ihre fachlichen Urteile seien aber beeinflussbar, sagt Buonomo. Wodurch? Existenzdruck, Auftragsvergaben, Geld.

Am Vesuv und im Sarno-Becken wurden 2003 zwar Rote Zonen ausgewiesen, in denen keine Neubauten mehr errichtet werden dürfen. Dennoch stehen in der Region bis heute 27.000 Gebäude ohne Genehmigung. Die meisten von ihnen waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebaut und zum Teil durch drei Bauamnesien bewilligt worden. Diese waren gut für Politiker wie Silvio Berlusconi, der mit den „condoni“ drei Mal im Wahlkampf auf Stimmenfang ging. Und sie waren gut für den Staat, der nachträglich 40 Milliarden Euro (DANKE) einnahm und damit Löcher im Haushalt stopfen konnte. Sie beförderten jedoch auch eine Mentalität, sich bei Bauvorhaben nicht um Genehmigungen bei den notorisch unterbesetzten Behörden zu bemühen.

Der Georisikoforscher Settimio Ferlisi von der Universität Salerno vor einem Graffito in Sarno: „Es ist nicht schwer, etwas Wertvolles zu erkennen, wenn du ihm begegnest … es glänzt nicht, es erfüllt dich eher.“

Kein Wunder, nicht nur in Kampanien hält man sich lieber an eigene Regeln als an Gesetze: „L’abusivismo per necessità“ bezeichnet eine sehr freihe Auslegung der italienischen Verfassung, nach der Wohnraum besetzt oder ohne Genehmigung gebaut werden darf, wenn Italiener sich in Wohnungsnot befinden. „Die meisten von ihnen wurden vor 2003 gebaut. Dagegen ist jurstisch nicht viel zu machen. Viele zu viele wurden aber auch danach gebaut. „Abusivismo per necessità“, so nennt sich die Gesetzeslücke in Italien: Wer keine Wohnung findet, darf aus der Notlage heraus illegal bauen. Juristisch ist das schwer zu unterbinden.“

Eine Fahrt mit dem Georisikoforscher Settimo Ferlisi auf der „Amalfitana“, der 51 Kilometer langen Superstrada 163 auf der Südseite der Sorrentinschen Halbinsel. Sie ist eine Art hydrogeologische Showmeile voller Thermometer, Niederschlags-, Wasserstands-, Wind- und Luftdruckmesser. Sie erfassen Temperatur, Feuchtigkeit und Wärme der Böden und wandeln Vibrationen, Verschiebungen und Rutschungen von Erdreich, Brücken und Mauern in elektrische Signale um. Alle zehn Minuten übertragen diese Geräte – in Kampanien sind es 500 – Daten an das Centro Funzionale im Regierungsviertel Neapels, dem Sitz des regionalen Zivilschutzes. Von dort werden sie über die acht Provinzhauptstädte an die Kommunen weitergegeben. Überschreiten die Daten Grenzwerte, schlägt Neapel Alarm und bei Roberto Robustelli summt das Handy.

Als Professor für Geotechnik an der Universität Salerno erforscht Ferlisi die Erdrutschgefahr in Kampanien. In diesem Jahr hat er hierzu eine Fallstudie über die Risiken für Straßennetze veröffentlicht. Ferlisi kann die Orte und Jahreszahlen der grösseren Erdrutschkatastrophen entlang der Superstrada 163 wie im Schlaf herunterbeten: Ravello 2021, Tramonti 2019, Positano 2006, Nocera Inferiore 2005, Maiori 1954, Cetara 1910. Zwei Fälle haben ihn besonders schockiert: Im Januar 2010 wurde der Chefkoch des Restaurants Zaccaria in Atrani von abrutschendem Geröll erschlagen – bei der Arbeit in seiner Küche. Im September des gleichen Jahres wurde eine 26 Jahre alte Barfrau derselben Stadt von Schlammfluten ins Meer gerissen – ihre Leiche fand man einen Monat später nahe der Liparischen Inseln, hunderte Kilometer südlich. In beiden Fällen hatte es vorher tagelang in Bindfäden geregnet, wie in Sarno 1998.

Studiert man die Chronologie des 5. Mai, die Legambiente zehn Jahre nach der Katastrophe veröffentlicht hat, stösst man auf einen beschwichtigenden Bürgermeister (ein Bauingenieur, der in dritter Instanz verurteilt wurde), auf Stunden zu spät eintreffende Warnungen per Fax von der Regionalverwaltung in Salerno und verschleppte Evakuierungsmassnahmen. Die Umweltschützer verweisen in ihrem Dossier jedoch auch darauf, was im Vorfeld geschah: Die Wälder über Sarno waren jahrelang abgeholzt, Unterholz durch den Einsatz illegaler Spritzmitteln vernichtet worden. Im Sommer vor der Katastrophe wurden drei Brände gelegt. Weil die Vegetation der Hänge des Pizzo Alvano ausgedünnt war, rasten diese auf einem Wasserpolster, für das der in den Boden eindringende Regen gesorgt hatte, nahezu ungebremst auf Sarno zu. Resultat des Rundumversagens: 137 Tote allein in Sarno und seinen Ortsteilen, darunter Roberto Robustellis Tante und sein Vater. Seinen Leichnam fand man in zwei Teile zerrissen, hunderte Meter vom Familienhaus entfernt. 351 Menschen wurden verletzt, darunter sein Bruder, der wegen Knochenbrüchen fünf Monate im Krankenhaus verbrachte. 180 Häuser wurden zerstört, 450 schwer beschädigt. Der Wiederaufbau von Sarno kostete fast eine halbe Milliarde Euro.

Die Empfehlung der Zivilschutzbehörden, die Häuser wegen der Erdrutschgefahr weiter flussabwärts oder in Randgebieten wieder zu errichten, wurde in  Bürgerversammlungen aber übererhört. Die Bewohner im besonders betroffenen Episcopio bestanden auf ihren alten Bauplätzen – und bekamen sie von den Lokalpolitikern schliesslich zugesichert. Auch das Haus der Robustellis steht wieder an seinem Platz in der Viale Margherita.

Der Schutzwall von Sarno: Elf Betonwannen und Kanäle von 20 Kilometern Länge, die 240.000 Kubikmeter Regenwasser und Erdreich fassen, falls der Berg sich wieder ergiesst. Wer soll dieses System instand halten, wenn kein Geld, keine Leute, kein Bewusstsein dafür existieren?

Ein Grossteil der Gelder für den Wiederaufbau wurde in den Nullerjahren in ein Schutzsystem investiert, bei dem Kanäle von 20 Kilometern Länge auf elf Betonwannen zulaufen. Es wurde nord-östlich von Episcopio am Fuss des Gebirgsmassivs in die Erde eingelassen und sollte 240.000 Kubikmeter Regenwasser und Erdreich fassen, falls der Berg sich über Sarno ergiesst. Das war der Plan. Weil die Kommune aber kein Geld und kein Personal hat, das Schutzsystem zu warten und instandzuhalten, war es bald von Unkraut, Sträuchern und Jungbäumen überwuchert. Als im November 2020 wieder einer dieser Bindfadenregen einsetzte und Teile des Pizzo Alvano abrutschten, waren die Kanäle und Wannen schnell vollgelaufen. Sie können derzeit schätzungsweise nur halb so viel Erdmaterial fassen wie ursprünglich vorgesehen. Ferlisi nennt das Schutzsystem spöttisch „Sarnos Dschungel“.

Fragt man bei den Kommunen im Sarno-Becken und an der Amalfiküste nach Vorsorgemassnahmen gegen Erdrutsche, verweisen die meist auf die Wissenschaft, auf Männer wie Ferlisi. Die meisten Bürgermeister wollen zu dem Thema kein Interview geben. Sie können im Nachhinein nur schlecht aussehen. Warum? Regnet es und es gibt keine Toten, Verletzten und Zerstörungen, haben die Robustellis Italiens zwar alles richtig gemacht. Wenn Bürgermeister bei der Bauplanung und beim Katastrophenschutz wegschauen, reicht es nach Erdrutschen meist, wenn sie einen Geldkoffer mitbringen. Sie gelten dann als gute Krisenmanager. Wer entschädigt, wird gewählt. Wer vorsorgt, gilt als Verschwender.

So wurden im südlichen Teil der Sarno-Ebene, rund um den Monte Albino, zwischen 2005 und 2011 über zehn Millionen Euro ausgegeben, um Schäden zu kompensieren, die durch Erdrutsche verursacht worden sind. Im gleichen Zeitraum wurden aber nur 200.000 Euro an staatlichen Geldern abgerufen, um diese Landschaften gegen zukünftige Erdrutsche zu sichern. Das belegt eine Studie von Greenpeace. Dabei empfiehlt auch die EU-Kommission: Jeder Euro, den die Länder der EU zur Verhinderung von Erdrutschen ausgeben, ist gut angelegt. Die spätere Regulierung von Schäden ist mindestens vier Mal so teuer.

Im Rathaus von Sarno ist es Nachmittag. Der Wind hat sich gelegt. Robustelli hat entschieden, Schulen und Kindergärten nicht zu schliessen. Schon am nächsten Tag aber wird Telegiornale, die Hauptnachrichtensendung des italienischen Fernsehens, die ersten Medicanes des Jahres ankündigen. Forscher haben 2019 herausgefunden, dass der Klimawandel im Mittelmeer stärkere Auswirkungen hat als im weltweiten Durchschnitt. Temperaturgrenzenhaben sich bereits so weit verschoben, dass es in Süditalien verstärkt zu tropensturmähnlichen Wetterextremen kommt. Ende Oktober 2021 brachte Medicane „Apollo“ innerhalb von 24 Stunden so viel Regen nach Sizilien wie sonst in einem halben Jahr. Bei Überschwemmungen in Catania starben drei Menschen.

Der Georisikoforscher Ferlisi macht eine Rechnung auf, sie ist einfach: Je grösser die Niederschlagsmenge durch Wetterextreme, desto höher auch der hydrologische Druck, der auch im Sarno-Becken und an der Amalfiküste auf die Böden wirkt. „Je mehr Druck, desto höher das Risiko für kollabierende Hänge,“ sagt Ferlisi. Könnten sich die Ereignisse von Sarno wiederholen? „Schwer zu sagen. Wir alle geben unser Bestes, aber am Ende wird es nicht gut genug sein.“

Roberto Robustellis zweites Leben begann am 8. Mai 1998 gegen 18 Uhr. Es ist der Tag, an dem Sarno jährlich seinen Schutzheiligen San Michele ehrt. Robustelli hatte im Dunkeln in einem fort Ave Maria und das Vater Unser gebetet. Irgendwann hatte er eigene Gebete erfunden und um ein Wunder gefleht. Dann, nach 76 Stunden unter Erde, hörte er erst einen Helikopter, später das Geräusch einer Bohrmaschine und Männerstimmen. Das dunkle Loch öffnete sich und der erste Strahl Sonnenlicht fiel zu ihm hinein, der Arm eines Feuerwehrmannes, der schlankeste von allen, wurde durch das Loch hindurchgesteckt, Robustelli griff zu und flehte ihn an: „Geh nicht, bitte.“ Der Mann sagte: „Hab keine Sorge, ich gehe nicht. Ich nehme dich mit. Ab jetzt bist du nicht mehr allein.“ Als er hochgezogen wurde, hörte er, geblendet von der Sonne, Menschen applaudieren.

Jahrelang hat Robustelli Antidepressiva nehmen müssen, um durch den Tag, und Schlaftabletten, um durch die Nacht zu kommen. „Das Schlimmste sind nicht die Alpträume, die du durchlebst, sondern die Träume, die du nicht träumst, weil du schlaflos daliegst.“ Er hat ein Buch geschrieben, „Roberto salvato dal fango“ („Roberto, aus dem Schlamm gerettet“) und war einer der ersten, der nach dem Erdbeben von L‘Aquila von der Presse angerufen wurde, um den und Bergungskräften Durchhaltevermögen und den Angehörigen der Opfer Kraft zu wünschen.

Robustelli ist für die Partito Democratico in die Kommunalpolitik gegangen und hat sich den Posten des Zivilschützers geben lassen, um an den Jahrestagen der Katastrophe vor Schulklassen nicht nur seine Geschichte zu erzählen, sondern auch um davor zu warnen, weiter in Zukunft illegal zu bauen, damit Schulen und Turnhallen nicht im falschen Moment an der falschen Stelle stehen. Leider verpuffen die Warnungen von Robustelli und Legambiente, wie sich im September 2021 zeigte. Sechs Jugendliche und ein Erwachsener zündelten in den Wäldern über Sarno. Es sollte wohl ein Kunststück werden, schrieb eine Zeitung, doch der Wald stand dann in Flammen.

Mit Robustellis Bergung 1998 sollen weisse Tauben aus dem Erdloch aufgestiegen sein, sagen einige in Sarno. Beten hilft, glaubt Roberto Robustelli. Auf Wunder verlassen, sollte sich aber niemand.