Februar in Okinawa. Ich war gekommen, um eine Reportage über die Ursprünge des Karate zu recherchieren, als mir Saori bei einem Abendessen einen Abstecher in die „Kolonie der Hundertjährigen“ in Ogimi vorschlug, einem Ort im Nordwesten der Insel. Unter den 1,5 Millionen Einwohnern von Okinawa leben über 1000 Menschen, die um die einhundert Jahre alt sind. Die Inselgruppe im südchinesischen Meer gehört zu den fünf sogenannten Blauen Zonen der Erde, in denen die Menschen besonders alt werden. Jeden Donnerstag träfen sich im Communitiy Center der 3200-Seelen-Gemeinde eine Gruppe von zwölf Frauen zum Ladys Day, zu Tanz, Tee und Blutdruckmessung. Sie möchten mich kennenlernen, sagte meine Übersetzerin.
Nun sitze ich also im Frühstückssaal meines Mittelklassehotels in der Hauptstadt Naha, warte auf Saori und picke die letzten zwei Fischstücke aus der Frühstückssuppe. Dabei fällt mir in der Japan Times, die neben mir liegt, eine Meldung über Keith Richards auf. Er soll vor einigen Monaten mit dem Rauchen aufgehört haben, mit 76. Der Entzug vom Heroin sei eine kurze Hölle gewesen, der vom Nikotin dagegen ein Inferno, das nun seit Monaten dauere, soll Richards gesagt haben. Dann fährt Saori mit dem Minibus vor.
Es geht eineinhalb Stunden die Westküste entlang in Richtung Norden, vorbei an Korallenstränden, vorbei an Wäldern, vorbei auch an der Kadena Air Base, dem größten Luftwaffenstützpunkt der US-Army im Westpazifik, bis unser Bus vor einem Betongebäude in Ogimi zum Stehen kommt. Wir steigen aus und die automatische Glastür des Gebäudes fährt auf, ich trete ein, vor mir ein holzgetäfelter Theater- und Tanzsaal, darin Frauen in Rollstühlen, Frauen auf Krücken, Frauen am Stock. Hallo von links, Hallo von rechts, ich lächle, alle lächeln zurück. Es wird mir ein Platz an der langen Tafel zugewiesen und ich befinde mich plötzlich im Fokus eines mit Kajalstift geschminkten Augenpaares einer Lady, die mir gegenüber ihre Hände auf den Tisch gelegt hat und an deren Zeigefinger der linken Hand zwei Glieder fehlen.
„Ohaiyou gozaimasu, ogenkidesuka,“ übersetzt Saori. „Guten Morgen, wie geht es ihnen? Mein Name ist Hana Miyagi. Und wie heißen Sie?“
„Mein Name ist Vito-san. Danke, dass sie sich Zeit für mich genommen haben. Mir geht es gut. Ich nehme an, sie wurden darüber informiert, weswegen ich hier bin. Ich muss sie leider fragen: Wie alt sind sie?“
„Ich bin 96“, sagt Hana. Von draußen weht die Melodie einer dreisaitigen Shamisen-Gitarre durch die offenen Fenster zu uns herüber und Hana wagt sich mit einer zweiten Frage vor, die ich seltsam finde, aber nicht unhöflich: „Sind sie verheiratet?“ Ich fühle mich eingeladen, ebenso direkt sein zu dürfen und sage: „Ich bin 54. Ledig. Vater einer erwachsenen Tochter. Was ist mit ihrem Finger passiert?“
„Das ist eine alte, schmerzvolle Geschichte,“ sagt Hana-san. Vor 75 Jahren forderte die größte Pazifikschlacht des II. Weltkriegs mehr als 150.000 Menschenleben in Okinawa. Hana war damals 21 und versteckte sich mit Zehntausenden anderen wochenlang in einer der vielen Höhlen der Insel, bei totaler Finsterniss. Erst nachdem in Hiroshima und Nagasaki Atombomen detoniert waren und die japanische Armee kapitulierte, kroch sie wieder aus der Dunkelheit. Wenig später habe sie mit einer Machete Kartoffeln in Stücke schneiden wollen und sich, seit Tagen vom ungewohnten Sonnenlicht benommen, die Fingerkuppen gekappt.
„Ist das ein Problem mit dem Finger?,“ fragt Hana.
Ich verstehe nicht, was sie meint, zum Glück kommt jetzt eine Krankenschwester an unseren Tisch und legt Hana die Manschette eines Blutdruckgeräts an, während die anderen zum Tanz übergehen, Frauen wie Mizako (90), Sara (99) und Nozomi (103). Die Musikanlage spielt okinawanische Folklore. Wer keine Kraft zum Stehen kann, hebt im Sitzen die Arme so weit es geht in die Höhe, schraubt die Hände in die Luft. Eine der Frauen löst sich aus dem Kreis, sie hat ihre Fäuste in die Taille gestemmt, nähert sich mir und fordert mich mit wiegenden Hüften zum Tanz auf.
„Komm’, Vito-san,“ höre ich Saori sagen, „sie gehört dir.“ Ich sehe sie kichern, auch Hana. Also gut, lass uns tanzen. Nach 20 Minuten dreht jemand die Musik aus und Hana sagt:
„Vito-san, wir haben uns über deine Fragen gefreut. Nun musst du etwas zurückgeben.“
„Was kann ich tun?“, frage ich.
„Wir alle sind Witwen. Du hast freie Wahl: Such’ dir bitte eine von uns aus.“
Alle lachen, ich irgendwann auch. Dann fährt wieder die Glastür auf und der Bus vor. Es fliegen mir noch Handküsse von links, Handküsse von rechts zu, und los geht die Fahrt zurück nach Naha.
Erschienen im Magazin Reportagen #54, September 2020. https://reportagen.com/