WAS BLEIBT |
Januar 2020 Es hat sich lange angekündigt. Dieses Buch erscheint in einer Zeit, in der sich die Krisen der letzten Dekaden zu einer Megakrise aufgetürmt haben. Finanzkrise, Klimakrise, Demokratiekrise, es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht der Meinungskrieg über die Misere ausbricht, ohne zu erkennen, dass die Krisen nicht wie Eindringlinge von außen in unsere Welt hereingebrochen sind, sondern unsere Systeme selbst diese Krisen beinhalten.
Seit einigen Jahren sind die Autoritären, Diktatoren und Rattenfänger zurück im Spiel. Sie vermessen die politischen Koordinaten neu und richten die Welt nach ihren Maßstäben aus. Was diese Leute Freiheit nennen, ist nicht dieselbe jener Menschen, die die Freiheit des Geistes, der Kunst, des Individuums in die Mitte der Gesellschaft getragen haben. Bei ihrem Bestreben ein individuelles und intensives Leben zu führen, sind diese hochindividualisierten und freien Menschen allerdings inzwischen in Grenzbereiche vorgestoßen – manche implodieren dabei oder brennen aus, im Beruf sowie im Privaten, auch in der Liebe.
Die Frage, wie die äußere Freiheit mit der inneren Freiheit zusammenhängt, zieht sich von Beginn an durch meine Arbeit: Freiheit anzustreben bedeutet immer auch, sich der Gefahr auszusetzen, dem Zwang zur Freiheit verfallen zu können. Was aber ist Freiheit wert, wenn sie herbeigezwungen werden muss? Solche Fragen haben mich bereits als junger Journalist interessiert, doch damals, als ich zum ersten Mal in eine Redaktion kam, hätte ich das so nie schreiben können. Ich wusste nicht einmal, warum ich Reporter werden wollte. Ich nehme an, weil ich mir dadurch radikale Freiheit versprach.
1986. Als ich an einem Tag im Spätsommer zum ersten Mal in meinem Leben eine Redaktion von innen sah, saßen in diesem Raum in der Altbauwohnung in der Hamburger Hallerstraße ein Mann, eine Frau und ein Hund namens Lucy. Keiner grüßte. Der Hund knurrte. Ich sah einige Redakteure der Szene Hamburg über die Flure gehen. Sie waren ausnahmslos in schwarz gekleidet. Aus einem Raum hörte ich Musik, irgendetwas von den Einstürzenden Neubauten. Wollte ich in dieser Gruft arbeiten?
Klaus Heidorn und Marion Schneider leiteten damals die Szene Hamburg. Ich unterschrieb den Volontärsvertrag, den sie mir hinhielten, und schloss in diesem Moment, unbewusst, einen Pakt mit mir selbst: Die Lebensreise als Reporter begann und führte mich exakt 30 Jahre später auf den Fahrersitz dieses Alfa Romeo 156, einer gebrauchten Kiste mit Holzlenkrad und 211 nervösen Pferden unter der Haube, die ich für einen Surftrip mit meiner Tochter Jamila nach Portugal gekauft hatte. Es war Nacht. Ich dachte darüber nach, eine Reportage über diese Reise zu schreiben und betrachtete meine Tochter auf dem Beifahrersitz. Sie schlief fest und ich fragte mich, was weiß sie, die zu dem Zeitpunkt 17 Jahre alt war, über meine Welt, wenn ich eines Tages mein Leben heruntergelebt haben werde?
Ich habe nichts Außergewöhnliches geschaffen. Autoren wie mich gibt es viele. Doch gleichgültig welche Qualität auch immer die Texte haben, die ein Autor glaubt, allein erschaffen zu haben, immer ist er von anderen abhängig, die ihm die Hand reichen, eine Tür öffnen und in den Ereignisraum hinter dem Sichtbaren führen. Ich möchte also einigen Menschen danken. Zum Beispiel Klaus Heidorn und Marion Schneider, die einem Ausländerjungen wie mir eine Chance gaben. Wie hoch war noch einmal die Zahl der in den 80er-Jahren in deutschen Medienhäusern arbeitetenden Schwarzköpfe? Fast Null.
Oder Uwe Kopf. Er wurde zwei Jahre nach mir angestellt. Er kam aus Hamburg-Berne redete wenig, hörte Van Morrison (60-Minuten-Kasetten) und schrieb auf einer mechanischen Schreibmaschine. Kam ich morgens in die Redaktionsräume, um die Post zu bringen, saß Uwe mit dem Rücken zur Tür. Er drehte sich immer kurz zu mir, schaute mich aus seinen melancholischen, braunen Augen an und grüßte nüchtern, nicht mehr als ein Nicken. Ein gelöstes Gespräch zwischen uns kam nie zustande, was ok war.
Ich mochte, wie Uwe arbeitete. Sortierte ich die Post in die Fächer, tippte er mit seinen Lederschuhen zum Rhythmus der Musik und drehte Wörter und Sätze in seinem Kopf hin und her. Dann hackte er drei, vier, fünf Sätze am Stück in die Schreibmaschine. Sein Tippen glich dem Knattern eines Maschinengewehrs. Gute Autoren haben einen eigenen Ton. Uwe hatte Sound. Ich war 20 und wollte können, was er konnte.
Nach meiner Zeit bei der Szene Hamburg verloren Uwe und ich uns für mehr als 20 Jahren aus den Augen. Er wechselte zu Tempo. Ich begann Reportagen, Stories und Sachbücher zu schreiben. Zwischendurch lernte ich einen Mann namens Jochen Schildt kennen, einen ehemaligen Afrika Korrespondenten der ARD. Dann kam Facebook und der Mann aus Berne tauchte wieder auf: Zwei Jahre lang chatteten wir über romantische Liebe, die nie eintrat, Freunde, die verschwunden waren, Musiker, die untergingen. Uwe ging damals kaum mehr vor die Tür.
Im Januar 2017 rief mich eine gemeinsamen Freundin an. Uwe war gestorben, gerade 60, kurz nachdem er seinen einzigen Roman fertiggeschrieben hatte. Ich habe ihm nie gesagt, dass er mein erster Lehrer war.
Dann kam Jochen. Er war Chefredakteur des Greenpeace Magazins, für das ich ab 2008 als Reporter tätig gewesen bin. März 2011. Die Tsunamiwelle hatte das Atomkraftwerk in Fukushima Dai-ichi gerade erreicht, da stand Jochen schon in meiner Bürotür und fühlte vor, ob ich bereit wäre, nach Japan zu fliegen. Wir schauten uns die Bilder an, die uns in YouTube erreichten. Die Katastrophe hatte biblisches Ausmaß. Jamila war gerade 12. Die Situation in Fukushima war unübersichtlich. Ich sagte ab. Doch nur wenige Monate später stand Jochen erneut in der Tür. Bald ist Jahrestag, sagte er nur. Ich buchte einen Flug nach Japan.
März 2012. Weil die ‘Ndrangheta mit der Migration aus Afrika Millionen verdient, schickte mich Jochen in dieses Nest in den Kalabresischen Bergen, dessen Bürgermeister Che Guevara zum Vorbild hatte. Ich sollte herausfinden wie das Geschäft der Mafia mit den Menschenhändlern funktioniert. Nach einigen Tagen Recherche gaben mir die Bewohner des Dorfs zu verstehen, mein Fotograf und ich sollten Riace nun besser verlassen, wir hätten genug Fragen gestellt. Jochen und ich berieten uns am Telefon, dann zog er uns ab.
Oktober 2013. Zwei Jahre bevor der Streit um Flucht und Migration Deutschland erreichte und eine in der Kloake fischende Partei namens AFD an die Oberfläche spülen sollte, kenterten vor Lampedusa Eine handvoll bruchreifer Fischerboote. 545 Flüchtlinge ertranken. Jochen stand wieder in der Tür. Ich flog auf den einsamen Felsen im Mittelmeer, um die Ereignisse zu rekonstruieren. Plötzlich tauchte in meinem Fernglas dieses Kriegsschiff am Horizont auf und die Recherche bekam eine neue Wendung.
Jochen war ein besonderer Mensch und Chefredakteur. Er liebte die Freiheit, Angst kannte er kaum. Flucht, Krieg, Waffen, Katastrophen, Dissidenten, NSA, KGB und GCHQ: Während meiner Zeit beim Greenpeace Magazin sind dank Jochen viele Reportagen, Gespräche und Porträts entstanden, die Teil dieses Buchs geworden sind. Jochen ist im August 2017 im Alter von 72 Jahren gestorben.
Ohne ihn gäbe es viele meiner Texte nicht, so wie es ohne meinen Vater Salvatore mich als Autoren nicht gäbe. Er ist nicht nur Teil dieses Buchs; in zwei Geschichten ist er Protagonist. Wäre mein Vater 1959 nicht aus Andria, einem Städtchen in Apulien, nach Hamburg aufgebrochen, vielleicht wäre ich heute auch Tischler von Beruf, wie er, was ok wäre. In Deutschland eingewandert, arbeitete mein Vater als Schiffsbauer in der Hamburger Werft Blohm & Voss. Einige seiner italienischen Freunde überlebten die Arbeit nicht. Sie fielen von Gerüsten und ertranken in der Elbe, weil sie nicht schwimmen konnten. Mein Vater ließ sich, ohne es zu wissen, seine Lungen vom Asbeststaub durchlöchern und starb in Raten. Blohm & Voss und Berufsgenossenschaft fühlten sich für seinen Tod nicht verantwortlich. Offiziell hat es Asbest in der Werft nie gegeben.
Mein Vater und meine Mutter, Nicoletta, eine Schneiderin, haben ein Leben des Verzichts gelebt. Sie stehen stellvertretend für dieMillionen Einwanderer, die bis heute Deutschland erreicht haben, um sich ein neues Leben aufzubauen und ihren Kindern Zugänge zu Bildung, Arbeit und einem besseren Leben zu ermöglichen, als sie selbst hatten.
Die Krisen der nächsten Jahrzehnten werden zu verschärften Verteilungskämpfen führen. Sehr viele Menschen werden an die Grenztore der Länder der Nordhalbkugel klopfen und Einlass fordern, auch an jene Hamburgs, der spröden Schönheit von der Elbe, einer Stadt, in der ich nie leben wollte, die mir aber fast alles gegeben hat, was ich heute bin – dieser Autor und dieser Vater, dessen Tochter im Sommer 2016 aus den eiskalten Wellen der West-Algarve auftauchte und dazu aufforderte, eine Textsammlung vorzulegen.
Also gut, hier ist sie, hier ist der Bericht über einen Teil der Wirklichkeit, wie ich sie erlebt habe. Texte aller Stile, aller Klassen aus den Jahren 1995 bis 2020.
Alle Stile, alle Klassen. Stories, Gespräche, Reportagen aus Politik, Sport und Gesellschaft. 1995 bis 2020. Limitierte und nummerierte Auflage. Edition Good Stories, 2020, 304 Seiten, 17 Euro. Order gegen Überweisung an mail@avantario.de.