SCHMERZ verbindet

Vor fast 30 Jahren habe ich zum ersten Mal Japan bereist. Danach begann ich mit Kampfsport. Nun bin ich ins Heilige Land des Karate zurückgekehrt und muss dafür zahlen. Eine Pilgerreise nach Okinawa, zur Quelle der japanischen Kampfkunst. Erschienen im Magazin der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag, 2020.

Alles begann mit einen Autounfall, der mich über Tokio in dieses Dojo am nördlichen Rand der Stadt Naha in Okinawa geführt hat, in dem ich nun einem Mann namens Tetsuhiro Hokoma, 76, gegenüberstehe und er mir meinen Trainingspartner vorstellt: „Das ist Dejan. Er sieht aus wie ein Killer, oder? Er wird dich töten. Bist du bereit?“

*

Im Mai 1992 fuhr mir in Hamburg ein Volvo Kombi von hinten in meinen Fiat Uno. Ich kam ins Krankenhaus, einige meiner Halswirbel waren verstaucht, ich hatte starke Schmerzen, aber auch sehr viel Glück, denn ich war bald wieder gesund. Der Unfall spülte mir Geld einer Versicherung auf mein Konto, so dass ich plötzlich eine Reise antreten konnte, die ich mir unter normalen Umständen nicht hätte leisten können. Es gab keine Emails, kein Skype, kein Whatsapp. Briefe nach Japan waren bis zu 14 Tagen unterwegs. Also rief ich meinen Freund Nils kurzerhand an, der in Tokio studierte, und sagte:
„Hör’ zu, frag’ nicht wie, ich habe das Geld zusammen, ich kann kommen. Wie sieht’s aus?“
Er sagte trocken: „Komm’.“ Dann löste ich das Ticket und stieg in den Flieger nach Japan.
Ich war 27, ungebunden, schrieb hin und wieder für ein Stadtmagazin und studierte unmotiviert etwas mit Medien. Nils dagegen schien einen Plan im Leben zu haben. Er war seit Jahren mit seiner Freundin zusammen, hatte eine Banklehre abgeschlossen und in Tokio gerade die Prüfung zum schwarzen Gurt im Shotokan Karate abgelegt. Natürlich verstand ich damals nicht, dass der erste Schwarzgurt sozusagen der Weißgurt unter den Fortgeschrittenen war, den Schwarzgurten. Er war sein Ticket für das tiefere Verständnis von Karate, das ab dem 1. Dan erst startet – sein Weg, sich durch Budo mit den letztendlichen Dingen zu beschäftigen, begann also gerade erst. Weil ich Nils aber nun für unschlagbar hielt, begann ich bald mit Shotokan Karate, auch aus Gründen, die das Jahr 1992 für Einwanderer einschneidend war. Aber dazu später mehr.
„Wieso bist du in Okinawa“, fragt Dejan.
„Das ist eine lange Geschichte. Ich bin gekommen, um von der Quelle zu trinken.“
Er sagt: „Viele kommen deswegen, viele haben Fragen, auf die sie Antworten suchen. Du wirst einen Preis dafür zahlen.“
„Wie hoch wird der Preis sein?“
Als ich vor einigen Tagen in Naha angekommen war, hielt ich mich für einen Kämpfer, der nach Hause gekommen ist. Doch nun streift Dejan die Ärmel seines Gi hoch, seines Karateanzugs. Seine Unterarme sind grün und blau geschlagen und durch das Abhärtungstraining der Körperteile an Holzpfählen auf abartige Weise angeschwollen. „Vergiss das Karate aus Europa,“ sagt er. „Mach’ dich in Okinawa auf Schmerzen gefasst.“
Die Inselgruppe liegt im Süden des Mainland Japans, im Südchinesischen Meer. Von Tokio ist das „Hawai Nippons“, wie es die Japaner bezeichnen, zweieinhalb Stunden Flugzeit entfernt. Die Küsten der subtropischen Inselgruppe sind traumhaft, die Fischbestände gelten als gesund, die Korallenriffe machen sprachlos vor Schönheit, berichten Taucher und Schnorchler. Im 14. Jahrhundert betrieben die okinawesischen Städte Naha, Shuri und Tomari Handel mit dem südostasiatischen Raum. Um Handel und Kulturaustausch zu fördern, entsandte 1392 die chinesische Regierung 36 Familien in diese Städte. Sie führten auch Kempo ein, eine Art Faustkampf, der sich mit einheimischen Kampfsystemen vermischte.
Die Techniken wurden im einem Buch namens „Bubishi“ zusammengefasst, einer Art Militärfibel. Sie ist so etwas wie die Schöpfungsschrift des Karate-do und wurde über Jahrhunderte hinweg in der „Bugei Cave“ versteckt, einer Höhle an dem heute einzigen freizugänglichen Strand am Nami-no-Ue-Tempel in Naha. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreichte die Kampfkunst Japan und verbreitete sich von dort aus als Shotokan- und Wado-ryu-Karate in der Welt.
Nirgends in der Welt, auch in Tokio nicht, gibt es an einem Ort so viele Dojos wie in Naha. In den 250 Dojos trainieren allein 10.000 einheimische Karateka. Hinzu kommen die 8000 Kämpfer aus allen Teilen der Welt, die jedes Jahr anreisen und um bei den Meistern Einlass bitten. Naha hat 300.000 Einwohner. Wenn man so will, stellen die Karateka hier so etwas wie eine kleine Armee dar. Neben Goju-ryu-Karate, werden in Naha die Stile Shorin-ryu und Uechi-ryu gelehrt. Für Kampfkünstler, wie Dejan, ist Okinawa deshalb ein Sehnsuchtsort, trotz der Schmerzen, die er auszuhalten hat.

Von links oben nach rechts unten: Tetsuhiro Hokama (10. Dan, GōjūRyū-Karate) während des Fotoshootings; Gruppenbild mit Trainingspartner Dejan (rechts neben Hokama-Sensei) und Reporter Avantario (links neben Hokama); zerlegter und geflickter Dummy; Nunchacks (dt. Würgehölzer); Preisliste für das Dojotraining. Fotos: Vito Avantario|Good Storys Hamburg

Über den Schmerz gibt es in Okinawa ein Sprichwort:

Der Schmerz bringt den Mann auf Gedanken.
Der Gedanke macht den Mann weise.
Die Weisheit macht das Leben erträglich.

Große Teile der kollektiven Erinnerung der Bewohner von Okinawa bestehen aus Schmerz: Vor 75 Jahren forderte die größte Pazifikschlacht des II. Weltkriegs hier mehr als 150.000 Menschenleben. Seitdem ist Okinawa der größte Stützpunkt der US-Armee im pazifischen Raum. 47.000 Marines sind in Japan stationiert, allein die Hälfte davon in Okinawa. Die 20 Luftwaffen- und 28 Marinemilitärstützpunkte nehmen fast 20 Prozent des Territoriums ein, was dazu geführt hat, dass große Gebiete von Zäunen umgeben sind und man irgendwann unweigerlich auf den Gedanken kommt, ob man das Paradies nicht endlich von den vielen Zäunen befreien könnte, damit die schmerzhaften Wunden der Menschen endlich heilen.
Seit einigen Wochen verbringt Dejan eine Art Privatlehrgang bei Meister Hokama. Er ist 37 und stammt aus Zürich. Jeden Tag Training, was in Karatewährung auf Okinawa bedeutet, jeden Tag Schmerzen. Hokama trägt den 10. Dan, also den zehnfachen Schwarzgurt. Er lehrt Goju-ryu-Karate und Kobudo, eine alte Kriegskunst, die mit von Bauern entwickelten Waffen ausgeübt wird, dem (Kurz- und Langstock), Sai (Dreizack), Nunchaku (Würgeholz), Eiku (Fischerpaddel) oder der Kama (Sichel). Sein Dojo ähnelt einer Art Villa Kunterbunt für Karateka aus aller Welt. Kürzlich stand plötzlich auch Steven Seagal in Hokamas Dojo. Der Actiondarsteller trägt den 7. Dan in Aikido. Er war gekommen, um sich von Hokama das System der Vitalpunkte vorführen zu lassen, jener Körperstellen, die durch Druck, Klopfen oder Schlägen zu Ohnmacht, Taubheit oder zum schmerzvollen Tod führen können.
Unter den Altmeistern von Okinawa ist Hokama so etwas wie der Freigeist, ein Denker, Maler, Buchautor, Doktor der Erziehungswissenschaften und so etwas wie der Gralshüter, er sagt: „Karate ist Hochkultur, es gehört gewürdigt wie die Musik von Brahms, Schubert oder Mozart, und Okinawa ist das Heilige Land der Karateka“. Deshalb ist sein Dojo auch halb Trainingshalle, halb Museum; Karate bei ihm ist immer auch Körper- und Asienkunde. Wer hier trainiert, schwitzt umgeben von Buddhastatuen, Boxsäcken, Büchern, Schrifttafeln und alten Fotos.
Dejan hat eine Statur wie Seagal in seinen besten Zeiten, ist aber ein Krieger mit eher sanftem Gemüt. Er ist serbischer Herkunft und lebt in Zürich. Meine Familie stammt aus Italien, ich habe mein Leben hauptsächlich in Hamburg verbracht. Vielleicht hat Dejan aus ähnlichen Gründen wie ich mit Karate begonnen: Für mich war das Jahr 1992 nicht nur deswegen einschneidend, weil ich den Unfall überstand, der mir die Reise nach Japan ermöglichte. Es war auch das Jahr, indem Neonazis einen Molotowcocktail in zwei von Türken bewohnte Häuser in Mölln warfen. Es gab neun Verletzte und drei Tote, darunter zwei Kinder. Es hätte auch meine Familie oder meine Freunde treffen können – so dachten viele Einwanderer, auch ich. Viele begannen mit Kampfsport, sie gingen zum Thai- und zum Kickboxen, weil das straßentauglicher ist. Ich erinnerte mich an die Japanreise und begann mit Shotokan Karate.
Dejan ist über 1 Meter 90 groß, durchtrainiert, er wiegt bestimmt 95 Kilo. Ich dagegen messe 1 Meter 72 und bringe 69 Kilo auf die Waage. Ich bin vier Mal die Woche im Gym oder beim Karatetraining und fühle mich fit wie lange nicht. Aber dieser Dejan ist nicht einmal 40 Jahre alt, ich schon 54. Unter normalen Umständen ist der Kleinere, Leichtere und Ältere dem Größeren, Schwereren und Jüngeren immer unterlegen, hat Meister Meitatsu Yagi (10. Dan) gestern gesagt, als wir uns in seinem Haus in Naha getroffen haben.  
Yagi gehört, wie Hokama und die andere Großmeister Nahas, zu den Legenden des Okinawa-Karate. Sie heißen etwa Morio Higaonna (82), Toshimitsu Arakaki (76), Kiyohide Shinjo (69), Hiroshi Akamine (65) oder Nobuko Oshiro (72), die mit dem 8. Dan höchstgraduierte Frau Okinawas. Wäre Okinawa Karate in Europa so populär wie Fußball, diese Kämpfer wären so etwas wie die Maradonas, Pelés und Beckenbauers ihrer Kunst. Sie sind die allerbesten ihrer Art. Alles an den Körpern dieser Kämpfer ist eine Waffe, nicht nur das Schienbein und die Faust, auch der Daumenknöchel, die Fingerkuppen, selbst der große Zeh. Im Netz sind Videos einiger ihrer Schüler zu sehen, in denen sie sich mit Eisenstangen auf ihre Körper einschlagen lassen und die dabei verbiegen wie Lakritzstangen. Die Februarluft roch nach Meersalz, draußen hatte es 20 Grad und die Ehefrau von Meister Yagi servierte Haselnusspralinen und grünen Tee, als Yagi sagte: „Karateka sind ansonsten friedliche Leute.“ Es käme auf den Lehrer an, was er aus seinem Schüler mache.

Von links nach rechts: Meitatsu Yagi (10. Dan, GōjūRyū-Karate) vor seinem Haus in Naha, das zugleich sein Dojo ist; Fotograf Enno Kapitza, Yagi-Sensei, Reporter Avantario; Yagi in seinem Wohnzimmer vor dem Fotoshooting; Kindertraining im Dojo von Sensei Nobuko Oshiro. Fotos: Vito Avantario|Good Stories Hamburg; Saori Gwhiz|g-whiz-okinawa.com

Yagi war fünf Jahre alt, als er von seinem Vater ans Karate herangeführt wurde. Meitoku Yagi (1912 – 2003) war Schüler eines Mannes namens Chōjun Miyagi (1888 – 1953). Er ist Begründer des Goju-Ryu-Karate, das Yagi wie auch Hokama lehren. Miyagi war ein strenger Lehrer, er nahm nicht jeden bei sich auf: Schüler, die pfeifend zum Training kamen oder sich ein Handtuch um den Hals warfen, bevor sie das Dojo betraten, setzte er kurzerhand raus. Die wenigen Schüler, die übrigblieben, ließ Miyagi im Garten ein Jahr lang Steine umsetzen und Bäume entwurzeln. Nur wer übrigblieb, durfte eine einzige Kata laufen, eine Formabfolge, in der die von Meistern über Generationen hinweg übertragenen Karatetechniken verschlüsselt sind. Im Goju-ryu-Karate gibt es zwölf Kata. Um alle Anwendungen einer einzigen Kata zu entschlüsseln, benötige man zwar drei Jahre, sagt man auf Okinawa. Doch wer alle Anwendungen beherrscht, kämpft mit der Kraft mehrerer Hände und Füße.
Yagi sagt: „Es gibt Karateka, die schlagen und treten jahrzehntelang irgendwohin und verstehen nicht, dass Karate kein Sport ist, sondern die Beschäftigung mit den letztendlichen Dingen.“
Was aber sind die letztendlichen Dinge? Um das zu verstehen, muss man in die Geschichte Okinawas zurück: Im 17. Jahrhundert besetzte Japan die Inselgruppe und entwaffnete die Bevölkerung. Daraufhin kam es zu Kämpfen der Inselbewohner mit den von Japan entsandten Samurai. Das im Geheimen und zur Nachtzeit ausgeübte Karate in Okinawa bekam starken Aufschwung. Jede Ein Krieger, der keine Waffen hat, muss alle Mittel einsetzen, auch seine Hände. Die Karateübung der Inselbewohner wurden zur Auseinandersetzung mit dem Tod selbst. Alles kann dann schnell zu Ende sein, für andere, aber auch für sich selbst, sagt Yagi.
„Was lehrt Karate noch über die letztendlichen Dinge?“, frage ich.
„Das höchste Ziel von Karate-do ist, inneren Frieden zu finden. Weil aber innerer Frieden nicht für alle Zeiten zu erlangen ist, endet Karate nie im Ziel, sondern bleibt ewiger Weg.“
„Nehmen wir an, ich möchte mich mit ihnen messen oder greife sie jetzt überraschend an, was geschieht dann mit mir?“
„Karateka greifen niemanden an. Wenn Sie sich mit jemanden messen wollen, sollten sie Sportkarate machen.“
„Was ist der Unterschied zwischen dem Sportkarate und dem Karate, wie sie es lehren?“
„Das Sportkarate lehrt, wie man kämpft. Wir auf Okinawa lehren, wie man Kämpfe vermeidet. Sie lehren wie man siegt, wir lehren, nicht zu verlieren. Sie lehren, wie man punktet, wir lehren, wie man tötet.“
„Wie töten sie, wenn sie mich töten müssten?“
„Es gibt viele Möglichkeiten. Zum Beispiel greifen wir die weichen Körperstellen an, Augen, Kehle, Nervenbahnen, alles, was nicht trainierbar, also muskulär nicht zu kräftigen ist“.
„Und wie viele Griffe bräuchten sie, um mich zu töten?“
„Eine Technik, ein Schmerz, ein Tod,“ sagt Yagi. Das sei der Kern von Karate, wie es auf Okinawa gelehrt wird.

*

Das Training beginnt. Weil ich Shotokan betreibe, nicht Goju-Ryu wie Hokama es lehrt, will ich die Etikette wahren, indem ich einen weißen Gurt anlege. Aber der Meister fragt in gebrochenem Englisch:
„Why white belt?“
„I practice Shotokan, not Goju-ryu“, sage ich.
„What coulor is your belt?“
„Black“, sage ich.
„Put black belt. I wanna see.“
Also, gut. Warmmachen, Dehnen, Bauchaufzügen, dann Liegestütz bis die Haut auf den Knöcheln platzt: erst auf den Knöcheln von Zeigefinger und Mittelfinger, dann auf denen von Ringfinger und kleinem Finger. Danach Liegestütz auf linker Faust, auf rechter Faust. Später laufen wir, eine Gruppe von 13 Karateka, auf Fäusten und Füßen durch das Dojo. Am Ende setzen Dejan und ich noch Fausthiebe in den Makiwara, einer flexiblen Holzlatte, die am oberen Ende eine Umwicklung aus Reisstroh hat. Wo an meinen Knöcheln noch lebendiges Fleisch ist, hat Hokama nur millimeterdicke, tote Hornhaut. Schmerz kennt seine Faust nicht mehr.
Dejan steht mir jetzt in einer Partnerübung gegenüber und versucht mir einen kraftvollen Mae-Geri unter meinen Bauchnabel zu setzen, dem Ki-Men-Punkt, der mein gesamtes Nervensystem lahmlegt, wenn ich seine Fußtechnik widerstandslos einstecke. Also spanne ich die Bauchdecke an und setze ihm, während ich nach rechts ausweiche, mit meinem linken Unterarm einen Block aufs Wadenbein, dorthin, wo ich ein Hämatom unter dem Hosenbein seines Gi vermute. Aber Dejan ist ein harter Hund, da ist keine Regung in seinem Gesicht. Empfindet der sanfte Riese keine Schmerzen mehr? Hat er sie sich wirklich in wenigen Wochen abtrainiert? Und wenn er Schmerzen empfindet, kann er den Ausdruck von Schmerz in seinem Gesicht abschalten?
Dejan lächelt. Ende des Trainings, nach eineinhalb Stunden. In mir breitet sich ozeangroße Erschöpfung aus. Dafür war ich nach Okinawa gekommen. Mein Ego ist tot. Ich lebe.