„Was ich verachte? Menschen, die Nahrung wegwerfen.“

Carlo Petrini ist Gründer von Slow Food. Die Bewegung setzt sich für eine Küche ein, die im Einklang mit der Natur steht. Ein Gespräch mit ihm über Fast Food, den Wert von Lebensmitteln – und seine miesen Kochkünste. Erschienen im Greenpeace Magazin, 2010.

Carlo Petrini

Seine Pressereferentin Paola hatte Probleme einen Termin für dieses Gespräch zu finden. Die Aschewolke des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull hatte den Kalender ihres Chefs durcheinander gebracht: Flüge, Vorträge, Konferenzen von Carlo Petrini waren ausgefallen oder verschoben worden. In Italien ist der Gründer von Slow Food ein berühmter Mann, er tritt in TV-Shows auf, schreibt für die großen Zeitungen des Landes und propagiert dort – verkürzt gesagt – so etwas wie die Entschleunigung unserer Essgewohnheiten. Angeblich holt sich auch der Küchenchef des Weißen Hauses seinen Rat ein, liest man in italienischen Klatschgazetten. Wir haben uns in Petrinis Büro in der Universität für gastronomische Wissenschaften in Pollenzo verabredet. In dieser Privatakademie südlich von Turin studieren etwa 500 Studenten. Ihre Gebühren betragen 20.000 Euro pro Jahr. In Petrinis Büro fallen zwei Dinge sofort auf: der Apple Macintosh auf seinem gläsernen Schreibtisch und dieses im Retrostil nach gebaute blutrot lackierte Hollandrad. Petrini kommt herein. Wir hatten uns um neun Uhr verabredet. Er trägt einen grauen Anzug, weißes Hemd, keine Krawatte. Er ist eine Stunde zu spät.

Carlo Petrini: Herzlich Willkommen, kann ich Ihnen einen Espresso, einen frischen Fruchtsaft, ein mit Salami belegtes Brötchen anbieten?

Greenpeace Magazin: Nein Danke, ich habe gegessen. Sie wirken gehetzt.
Leider stand ich im Stau. Italien ist das Land der Autokolonnen. Wie in den Städten stapeln sich selbst auf dem Land am Morgen bereits die Fahrzeuge auf den Strassen, es ist furchtbar.

Was frühstücken Sie an einem Morgen wie diesen, an dem Sie es eilig haben?
Anders als bei Ihnen in Deutschland nehmen wir in Italien kein reichhaltiges Frühstück mit Brötchen, Wurst, Käse oder Eiern ein. Normalerweise esse ich gar nichts am Morgen – aber heute gab es wie immer einen Cappuccino und dazu ausnahmsweise eines dieser hervorragenden Croissants mit Vanillefüllung aus der benachbarten Bar. Der Konditor dor hat kürzlich einen Preis für seine Backkunst gewonnen. Seine Croissants gelten als die besten Italiens.

Was an der Art wie Sie heute gefrühstückt haben entspricht der Idee von Slow Food?
Nicht viel. In gewisser Weise habe ich heute Fast Food zu mir genommen. Slow Food dagegen steht für die ländliche Küche, die ihre Zutaten aus der Region bezieht und im Einklang mit dem Biorhythmus der Natur steht. Ich liebe die einfache, gesunde Kost – eine einfache Kartoffelsuppe, Pasta mit frischen Tomaten, ein gutes Landbrot mit Ziegenkäse.

Welche von den genannten Speisen bereiten Sie am liebsten zu?
Ich hatte früher die schlechte Angewohnheit selbst zu kochen und meine Familie und Freunde mit meinen Desastern zu behelligen. Deshalb habe ich beschlossen, das Kochen sein zu lassen. Ich habe das Glück eine Schwester zu haben, die auf gesegnete Weise kochen kann. Sie umsorgt mich mit meist mit einfachen, traditionellen Speisen – die auch unsere Großeltern gemocht haben und die ich noch immer für zeitgemäß und gesund halte.

Kritiker werfen Ihnen ihren Traditionalismus vor, manche meinen sogar Sie seien reaktionär. Ihre Bewegung wird inzwischen auch von politischen Parteien wie der rechten „Lega Nord” instrumentalisiert, indem sie behauptet, Slow Food hätte ihre agrarpolitische Positionen übernommen. Die Lega existiert seit 1984, Slow Food erst seit 1989.
Ich kenne die Vorwürfe, finde sie aber absolut unsinnig. Wenn Slow Food reaktionär sein soll, ist dann Greenpeace rechts- oder linksgerichtet?

Greenpeace ist frei von politischer Ideologie.
Und die Slow-Food-Bewegung ist frei von politischen Einflussnahmen von links und rechts. Leider aber ist es in Italien zur Mode geworden alle Aussagen von Menschen wie mir, die sich öffentlich einmischen, in ideologische Kategorien zu pressen, während sich gleichzeitig politische Parteien wie Schmarotzer an unsere Bewegung heften, weil sie unter den Bio-Landwirten, die sich uns angeschlossen haben, Wählerpotential vermuten.

Inwiefern fördert Slow Food die ökologische Landwirtschaft?
Wir Menschen versetzen die Erde seit Beginn der Industrialisierung in einen perversen Stress, der zur Folge hat das der Humus des Planeten immer weiter verarmt. Deshalb meinen wir, dass Landwirtschaft kompromisslos öko-biologisch sein muss – wir haben keine andere Wahl. Ich kaufe auch keine Erzeugnisse aus Übersee, sondern bevorzuge Weintrauben, Feigen oder Oliven aus lokaler Landwirtschaft. Wir müssen in der Landwirtschaft dringend zurück zu einer Haltung, die uns in einem harmonischen Zusammenleben mit der Natur führt. Eine Agrarwirtschaft, die sich für Supermarktketten prostituiert, indem sie Massenprodukte herstellt und diese durch Marktingstricks als „biologisch” ausweist, verweigere ich mich.

Nahrungsmittel, die öko-biologisch erzeugt werden, sind weitaus teurer als Massenprodukte. Die meisten Menschen können sich aber nur konventionelle Nahrungsmittel von Discountern leisten. Finden Sie Ihre Haltung nicht für elitär?
Was Sie behaupten ist eine Legende, die unter städtischen Bevölkerungen kursiert. Deshalb möchte ich Ihnen eine Gegenfrage stellen: Sollten Nahrungsmittel grundsätzlich billig sein oder sollten sie eher einen angemessenen Preis haben?

Sie sollten gesund und möglichst CO2-neutral produziert worden sein, eine energiesparende Logistikkette durchlaufen haben bevor sie den Verbraucher erreichen und wenig kosten.
Und genau aus diesen Gründen kann der Preis von hochwertigen Nahrungsmitteln nicht niedrig sein. Er sollte deshalb vor allem fair kalkuliert sein – für Verbraucher, Hersteller, Landwirte und letztlich für unseren Planeten. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, ob unsere Haltung gegenüber der inflationären Entwicklung von Nahrungsmittelpreisen richtig ist. Wir müssen uns also dem Trend zu niedrigen Preisen widersetzen.

Ihre Forderung ist absurd: Sie können nicht von Konsumenten fordern, für hohe Nahrungsmittelpreise zu protestieren.
Natürlich nicht. Aber die Haltung der Verbraucher niedrige Preise zu erwarten, ist wahnsinnig: Auf der Erde leben fast sieben Milliarden Menschen. Jährlich werden weltweit Nahrungsmittel hergestellt, die aber zwölf Milliarden Menschen ernähren könnten. Die Hälfte dieser Produktion wird vernichtet: Nahrungsmittel für potentiell sechs Milliarden Menschen, und das zumeist von Verbrauchern, die aus den reicheren Gegenden der Erde stammen und deren Bevölkerung aber weiterhin behauptet, die Preise für Nahrungsmittel seien zu hoch, während gleichzeitig mehr als eine Milliarde Menschen auf der Erde unterernährt ist oder hungert. Das nenne ich absurd. Wir sollten also weniger verschwenden, mehr Qualität produzieren – und angemessene Preise dafür zahlen.

Wie erklären sie sich dann den Erfolg von Discountern?
Die meisten Menschen könnten sich durchaus bessere Produkte von lokalen Herstellern leisten – und diese zu Preisen, die unter denen der Industrieware liegen. Aber leider werden die Vertriebswege zu den Supermärkten von der Nahrungsmittelindustrie besetzt gehalten und mit allen Mitteln verteidigt. Dieses System hat einen starken Wettbewerb zur Folge, der Nahrungsmittel immer billiger macht. Wollen wir aber faire Märkte, muss diese kranke Dynamik durchbrochen werden. Es ist dringend notwendig diese Vertriebslogik zu verändern.

Was schlagen sie also vor?
Zuerst muss sich das Bewusstsein der Verbraucher verändern. Nahrung wird von der Masse der Konsumenten im Vergleich zu anderen Angeboten ein geringerer Wert beigemessen – für Haus, Auto, Mode, Urlaub geben die Leute viel mehr Geld aus als für Nahrung. Das ist eine Tendenz, die ich kritisiere: Ich verachte jene, die niedrige Preise fordern, um sich so letztlich das Recht einzukaufen, Nahrungsmittel wegzuwerfen.

Wie könnte man dies vermeiden?
Alternativ zu den Discountern müssten europaweit flächendeckend Bauernmärkte zugelassen werden. Diese würden von so genannten „Community Supporters” unterstützt – also von Konsumenten, die Produkte dieser Märkte kaufen und somit eine stetige Nachfrage schaffen. Auf diese Weise entstünden neue, dauerhafte Märkte geschaffen, deren Produkte zu niedrigeren Preise angeboten würden je mehr „Supporters” daran teilhätten – diese Verbraucher würden letztlich gesündere Produkte kaufen als jene in Discountern. Diese Idee erfordert aber aktive und mündige Kunden, die nicht wie Esel hinter jeder Karotte herlaufen, die das Marketing der Industrie ihnen vor das Maul hängt. Im Übrigen kommen die minderwertigen Nahrungsmittel Kunden teurer zu stehen als sie wirklich sind – die Zusatzkosten sind bloß nicht auf dem Preisschild ausgewiesen.

Welche Ausgaben meinen Sie?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Es ist wahr, dass ein Hamburger von McDonalds billig ist und satt macht. Wenn aber der Verkaufspreis dieses Burgers nach dem ökologischen Fußabdruck kalkuliert würde, den er hinterlässt, wäre er um ein vielfaches teurer als ein Vergleichsprodukt, das öko-biologisch hergestellt wird. Denn für jeden billigen Burger von McDonalds, der irgendwo in der Welt gegessen wird, zahlen wir alle den Schaden mit, den er in der Natur hinterlässt – für die Viehhaltung werden etwa Wälder gerodet; für die Herstellung von Fleischfrikadellen wird Unmengen Wasser verbraucht. Diese ausgelagerten Kosten zählt kein Kunde von McDonalds mit. Er sieht auch nicht, dass globalisierte Unternehmen wie McDonalds die Biodiversität auf der Erde gefährden.

Inwiefern sind Nahrungsmittelkonzerne für das Aussterben von Tierarten verantwortlich?
Unternehmen haben meist das Interesse Kosten so niedrig wie möglich zu halten und ihre Gewinne zu maximieren. In der Viehwirtschaft bewirkt dies, dass resistente Tiere den schwachen bevorzugt werden. In Italien sind auf diese Weise in den letzten 150 Jahren fünf Arten von Kühen von den Weiden verschwunden, weil sie zu wenig Milch gaben. Unter kapitalistischen Gesichtspunkten würde man sagen: Diese Kühe waren nicht effizient genug. Es droht die Gefahr, dass so immer mehr Tierarten verschwinden – während gleichzeitig die Einkaufswagen der Verbraucher immer voller werden.

Ginge es nach Ihnen, könnten Verbraucher in Deutschland nie einen guten piemontesischen Rotwein trinken – und sie niemals einen pfälzischen Riesling.
Ich bin kein Dogmatiker. Ich muss nicht alles verweigern, was aus dem Ausland kommt. Wenn ich einen Riesling trinken möchte, habe ich das Recht dazu, ohne gleich in die Pfalz fahren zu müssen. Ich meine aber, wir müssen uns beschränken: Wir können nicht außerhalb der Saison Erdbeeren essen; wir müssen nicht Äpfel aus Chile verspeisen; wir benötigen nicht zu jeder Jahreszeit den vollen Umfang an landwirtschaftlichen Produkten – wer die unterschiedlichen Jahreszeiten anerkennt, respektiert auch den Biorhythmus der Natur und hilft dabei, dass Arten erhalten werden. Deshalb schulen wir von Slow Food auch die Geschmackserziehung von jungen Menschen.

Was meinen Sie mit: Geschmackserziehung?
Inzwischen gibt es Slow Food in mehr als 100 Ländern. Wir haben über 82.000 Mitglieder. In Italien kochen inzwischen rund 200 Schulmensen nach unseren Vorgaben. In den USA arbeiten wir mit rund 30 Universitäten zusammen, die nach unseren gastrowissenschaftlichen Ideen die Studenten lehren und deren Kantinen nach Richtlinien von Slow Food betrieben werden. Am Vormittag zu studieren bringt doch mehr Spaß, wenn man weiß, dass mittags ein schmackhaftes und gesundes Essen auf den Tisch kommt, das liebevoll zubereitet ist, finden Sie nicht?

Ja. Und was werden Sie später zum Mittag essen?
(Lacht) „Ich lass mich überraschen, das was der Wind bringen wird”, sagen wir in Italien. Der Vorsteher eines Klosters weiß ja auch nicht was der Mönchsbruder in der Küche bereitet. Er nimmt das Geschenk an und erfreut sich der Gabe Gottes – ich gehe nachher nach Hause und freue mich auf die Gabe meiner Schwester.

ZUR PERSON
Carlo Petrini, 61, ist Begründer der Bewegung Slow Food und Präsident von Slow Food International. Nach seinem Soziologiestudium betrieb er einen nicht lizenzierten Rundfunksender in seiner Heimatstadt Bra, dessen Schließung prominente Freunde wie Dario Fo verhindern konnten. Mit seinem Restaurantführer Osterie d’Italia löste er eine Rückbesinnung auf die gastronomischen Traditionen Italiens aus. Petrini rief zudem Projekte ins Leben wie die Arche des Geschmacks, den Preis zum Schutz der biologischen Biodiversität, die Uni für Gastronomische Wissenschaften von Pollenzo im Piemont sowie Terra Madre, ein Bündnis, das Menschen zur Diskussion über Fragen zur nachhaltigen Lebensmittelproduktion zusammenbringt.

ZU SLOW FOOD
Slow Food wurde 1989 in Italien gegründet. Die Bewegung bemüht sich um die Erhaltung der regionalen Küche mit heimischen pflanzlichen und tierischen Produkten und deren lokale Produktion. Gastronomie nach den Kriterien von Slow Food muss gut, sauber und fair sein, die Produktion von Lebensmittel regionale Wirtschaftskreisläufe stärken. Inzwischen gibt es Slow Food in mehr als 100 Ländern und hat über 82.000 Mitglieder. Deutschland hat mit etwa 10.000 Mitgliedern eine der größten Vereinigungen. Das Symbol von Slow Food ist eine Schnecke.