Scheiße: Schiller!

Der Schauspieler Uwe Bohm hat Angst vor dem Scheitern. Jetzt bloß keine Panik. Ein Gespräch. Von Vito Avantario und Kai Flemming. Erschienen im Feld Magazin, 2008.

Es hat 21 Telefonate gedauert, bis wir Uwe Bohm treffen. Der Schauspieler besitzt keinen Computer, eine E-Mail-Adresse hat er auch nicht. Meist hatten wir ihn am Telefon, wenn er gerade an irgendeinem Bahnhof vor der Abreise nach irgendwohin oder nach der Ankunft von irgendwoher kam. Eine Verabredung zum Interview sagt er kurzfristig ab, die anderen Versuche ihn zu treffen scheitern am engen Terminkalender des Schauspielers. Dann fliegt ihm dieses Engagement ins Haus, das Bohm den Schweiß auf die Stirn treibt, als wir ihn endlich auf einen Termin festnageln wollen.
„Ja, ich würde Sie gern treffen, aber ich habe gerade zuviel Text im Kopf und kann mich nicht erinnern, was in der kommenden Woche anliegt. Ich soll Schillers „Maria Stuart” in Bochum spielen, die Rolle macht mich verrückt,” sagt er.
„Hören Sie, halten Sie Ihre Gedanken fest. Wir kommen nach Bochum und dann drücken wir auf den Startknopf.” Wir verabreden uns im Foyer des Art Hotel Tucholsky.
Für sechs Wochen hat Bohm während der Theaterprobe am Schauspielhaus Bochum im vierten Stock eine Wohnung gemietet. Draußen regnet es in Strömen. Die Schwingtür des Lokals öffnet sich und ein mittelgroßer Mann im dunklen Wollmantel tritt herein. Seine Begrüßung ist herzlich, dabei greift er die Hand seines Gegenübers mit beiden Händen, als wäre man ein alter Freund.

Guten Abend Herr Bohm, Sie kommen von der ersten Leseprobe. Wie ist sie gelaufen?
Es ist mein erster „Schiller”. Ich kenne meine Kollegen noch nicht. Mit Regisseur Elmar Goerden habe ich noch nie gearbeitet. Da setzt ab dem ersten Tag der Leseproben dieses Gefühl von Minderwertigkeit und Versagen in mir ein. Die Kollegen, die mich nicht kennen, wundern sich über meine Aufregung.

Sie spielen seit Jahrzehnten auf deutschen Bühnen und haben in vielen Spielfilmen Hauptrollen besetzt. Wovor haben sie Angst?
Ich bereite mich immer gut auf meine Arbeit vor. Aber wenn ich dann auf der Bühne stehe und weiß, gleich kommt mein Einsatz, beginnt diese Unruhe in mir aufzusteigen. Ich höre mich dann reden und erkenne mich nicht wieder, wie eben in dieser Leseprobe: ich klang völlig bescheuert, mein Einsatz, meine Intonation, meine Sprache stimmte vorne und hinten nicht. Wissen Sie, ich bin kein Techniker, keiner der einfach in sein darstellerisches Instrumentarium greift, um eine Figur zum Leben zu erwecken. Es gibt Kollegen, die machen das ganz handwerklich. Ich habe nie eine Schauspielschule besucht. Ich schöpfe eher aus meiner Phantasie und versuche die Figuren vor allem emotional zu treffen. Vorhin aber habe ich nur Scheiße abgeliefert.

Was löst in Ihnen dieses Unbehagen aus: Die Rolle, die Sie sich erarbeiten müssen? Die neuen Kollegen, die Sie nicht kennen? Die Erwartungen des Publikums?
Ich denke fast täglich daran zu Intendant Elmar Goerden zu gehen und zu sagen: „Elmar, hör zu, es tut mir leid, aber ich höre auf, ich will das hier nicht. Die Arbeit geht mir zu sehr an die Nieren.” Dann aber durchdringe ich Schritt für Schritt die Rolle und spüre irgendwann, sie wird ein Teil von mir. Bis es aber soweit ist, muss ich diesen Kampf mit mir ausfechten. Er ist es, der mir Unbehagen bereitet.

Herr Bohm, junge Kollegen betrachten sie aber als Vorbild, als gestandenen Schauspieler. Sollten Sie sich nicht zusammenreißen?
Am Schauspielhaus in Bochum arbeite ich gerade mit einem jungen Kollegen, der schaut mich manchmal an, wie ich damals den großen Schauspieler Gerd Voss, einen meiner Vorbilder. Seine Reife hat mir immer imponiert. Mein junger Kollege sieht womöglich nun den alten Bohm mit seinen 45 Jahren an und erkennt in ihm einen erfahrenen Schauspieler. Er weiß aber nicht, wie es in mir aussieht und welche Ängste ich durchmache, während er mich bewundert. (Uwe Bohm lacht)

Die Kellnerin kommt an unseren Tisch und reicht die Speisekarten. Uwe Bohm fragt nach Grünkohl und Kassler. Die Kellnerin tritt ab und will sich in der Küche danach erkundigen. In der Zwischenzeit hat sich Uwe Bohm in einen Rausch geredet und wir kommen nur noch schwer dazu, mit Fragen in seinen Monolog hineinzustoßen. Seine Gedanken formuliert er in um die Sache kreisenden Sätze, als würde er immer wieder neue Anläufe nehmen, den immer selben Gedanken zu beschreiben. Gewissermaßen nähert er sich auf diese Weise spiralenförmig dem Kern seines Anliegens. Die Kellnerin kommt aus der Küche und Bohm bestellt Grünkohl ohne Kassler aber mit Kochwürsten, dazu eine Cola mit Eis und ohne Zitrone. Bohm hat eine jugendliche Stimme, er redet mit einem leichten Hamburger Akzent. Er ist in dem Hamburger Arbeiterviertel Wilhelmsburg aufgewachsen.

Herr Bohm, Sie selbst sind im Alter von elf Jahren von Hark Bohm als Akteur für den Film „Nordsee ist Mordsee” entdeckt worden. Der Regisseur hat sie später auch adoptiert. Zu ihrem leiblichen Vater hatten sie ein schwieriges Verhältnis. Warum?
Ja, Hark hat mich adoptiert. Er hat sich auch sehr darum bemüht, herauszufinden was ich lernen will und hat, als der Erfolg kam, dafür gesorgt, dass ich nicht abhebe.

Sie sind berühmt geworden, weil sie 1975 in seinem Film „Nordsee ist Mordsee” diesen jungen Rocker gespielt haben …
… das war kein Rocker. Die Figuren, die ich in meinen ersten Filmen gespielt habe, waren keine Rocker …

Aber sie haben damals in dem Film diese Jeanskutte getragen …
Was habe ich getragen, eine Kutte?

Ja, diese Jeansweste, die auch Rocker trugen …
… die mit den Nieten, meinen Sie?

Ja. In den 70ern trugen harte Jungs solche Kutten.
Ja, aber wichtiger für uns waren damals der Durchmesser unserer „Veddelhosen”. Je weiter der Hosenschlag, desto mackerhafter erschienst du als Typ. Mit 80 oder 100 cm Durchmesser warst du der König der Straße. Die Hose hat ihren Namen wegen des Hamburger Viertels „Veddel”. Wegen seiner Hafennähe war es damals ein Arbeiterquartier. Dort gab es einen Laden der hieß „Paulsen”. Der hat diese „Veddelhosen” geschneidert. Ich glaube, das Geschäft gibt es heute noch.

Sie sind in Wilhelmsburg aufgewachsen, einem benachbarten Viertel der Veddel. Ihr Vater war Hafenarbeiter, ihre Mutter arbeitete in einem Kaufladen.
Ja. Ich bin im Januar 1962 zur Welt gekommen. Meine Eltern müssen gedacht haben, ich sei ein Katastrophenkind (Bohm lächelt): Ich war rothaarig, hatte Sommersprossen, schrie viel und ein Monat später kam die große Flut über Hamburg. Wir mussten dann von dort wegziehen, weil unsere Straße vom Wasser überspült worden war.

Später kamen sie ins Jugendheim. Warum?
Ich hatte viele Schwierigkeiten in meinem Leben. Meine Mutter ist während meiner Dreharbeiten zu „Moritz lieber Moritz” gestorben. Wann mein Vater gestorben ist, kann ich nicht sagen, ich weiß nicht mal wie alt er geworden ist. Ich hatte allerdings noch Kontakt zu ihm, als ich schon bei Hark gewohnt habe – Hark hat mich immer daran erinnert, ich solle den Kontakt zu meinem Vater aufrechterhalten. Ich war damals jung und hatte eine säuische Wut auf meinen alten Herrn, ich dachte: „Wenn ich meinem Vater das nächste Mal treffe, lege ich den um.” Hark hat dann gesagt: „Der Mann hat seine Geschichte, er kann nicht anders als er ist. Du musst Verantwortung für dich und dein Leben tragen.” Da war ich zehn Jahre alt. Als Jugendlicher habe ich oft meinen Vater besucht und Fragen gestellt, aber mein Vater war sehr verschlossen: Er war Kommunist und war in den 50er Jahren DDR-Spion. Ich kann mich erinnern, dass wir eines Tages gemeinsam zum russischen Konsulat in Hamburg gegangen sind, er an die Tür geklopft und gerufen hat: „Ivan, ich muss hier weg, ich muss hier raus, mit meinem Sohn.” Dann kam die Polizei und er wurde abgeführt. Später wurde er krank und ich habe ihn gepflegt. Darüber war er glücklich.

Bohm hat einen Mordshunger und isst in großen Bissen. Die Kochwürste haben es ihm besonders angetan. Er isst sie mit reichlich Senf. Mittlerweile hat er sich das erste Bier bestellt. Es ist 17 Uhr. Draußen regnet es noch immer sehr stark. Bohms Körperhaltung hat sich nach dem Essen entspannt, er sitzt breitbeinig, lehnt sich weit in seinen Sessel zurück und legt seinen Ellbogen auf die Rückenlehne. Dabei fällt ihm das Manuskript zu „Maria Stuart” aus der Tasche seines Mantels, der über dem Sessel hängt.

Hätten Sie Hark Bohm nicht kennengelernt, was wäre dann aus ihnen geworden?
Hätte meine Tante Eier, wäre sie mein Onkel. Was weiß ich denn? (Bohm lacht, macht dann eine lange Pause). Ich kann mich erinnern, wie ich mit Hark und der Familie zum ersten Mal in meinem Leben nach Sylt gefahren bin. Wir waren bei Leuten, denen angeblich der „Spiegel” gehörte, das sagte man mir, aber das war für einen Jungen aus meinen Verhältnissen bedeutungslos. Der Hammer für mich war: Die Gastgeber hatten Pferde! Das muss man sich vorstellen. Die hatten auch einen Swimmingpool und ich dachte, was geht denn hier ab? Das Leben dieser Leute war völlig absurd. Ich war 280 Kilometer von Hamburg-Horn entfernt, wo wir später wohnten, und ich dachte, ich bin auf dem Mond gelandet. Diese Welt war mir derartig fremd, dass sie mich erschrak wie dieses Manuskript für „Maria Stuart”.

Gewähren Sie uns einen Blick in Ihr Manuskript?
Bitte sehr (Bohm reicht uns das Papier). Als ich es zum ersten Mal in der Hand gehalten habe, dachte ich: „Scheiße: Schiller!” Dann lese ich den Text und denke, Schiller ist nicht so schwer, wie ich angenommen habe. Die rosa markierten Passagen muss ich sprechen. Sie verfolgen mich Tag und Nacht. Ich bin ständig mit meinem Scheitern beschäftigt.

Sind Sie schon einmal an einem Manuskript gescheitert?
Ja, natürlich, ich scheitere ständig, aber meist mit Erfolg. Die Angst vor dem Scheitern treibt mich zu Hochleistungen. Manchmal ist Scheitern auch lustig: Ich sollte einmal einen von zwei jungen Nazis spielen, die in ein Wirtshaus kommen. Die Gäste sollten uns angucken und ich sollte sagen: „Heil Hitler, wir kommen, um Untersuchungen durchzuführen.” Das war mein läppischer Satz. Ich bekam den aber nicht hin. Die Regisseurin war verzweifelt. Also übernahm mein Kollege den Satz und wir drehten die Szene noch einmal. Wir kamen also wieder ins Wirthaus und die Gäste rufen stramm „Heil Hitler!” und wir sagen auch „Heil Hitler!” und dann sagt mein Kollege den Satz. Super, denken wir, alles im Kasten. Zwei Tage später bekomme ich einen Anruf, und mir sagt jemand, dass die Szene noch mal gedreht werden muss. Warum, frage ich. Alle haben alles richtig gemacht, sagt die Frau. Nur ich, ich stand da und hatte den linken Arm gehoben.