Treffen in Skype. Luciano Floridi, italienischer Professor der Philosophie und Informationsethik, erscheint auf dem Bildschirm, im Hintergrund ist ein Bücherregal zu sehen, es steht schief. Davor sitzt ein akkurat gekleideter Mann, weißes Hemd, grüne Krawatte. Floridi zählt zu den derzeit renommiertesten Medienkritikern. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Erforschung und Formulierung einer neuen Ethik für das, was er die Infosphäre nennt, also die Sammlung aller Daten im digitalen Raum, im Netz, in der Welt der KI, auf dem Terrain autonomer Agenten und Bots. Seit 2013 ist er Professor der University of Oxford. Seit 2014 gehört Floridi auch einem Beirat mit insgesamt acht honorarfreien Experten aus europäischen Ländern an, den Google zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom 13. Mai 2014 zum „Recht auf Vergessenwerden“ gründete. Sein Buch „Die 4. Revolution“ hat Suhrkamp herausgegeben. Erschienen in brand eins Thema, 2020.
Signor Floridi, sie sind heute 54, als Sie das erste Mal ins Netz gingen, waren Sie 24. Welche Erinnerung haben Sie an den Tag?
Es war ein Nachmittag im Sommer 1988, ich war Student und wollte zum ersten Mal per Modem einige Daten von Rom an die Universität in Warwick übertragen. Ich warf die Maschinen an. Rechner und Modem waren zusammen so groß wie mein Reisekoffer. Bis weit in die 90er-Jahre hinein wurde man ja noch gefragt, ob man online beziehungsweise „im Netz“ war. In hochentwickelten Informationsgesellschaften wie unserer sind solche Fragen bedeutungslos geworden.
Stellen Sie sich vor, Sie werden von jemandem gefragt, ob Sie online sind, Sie mit dieser Person aber gerade über Ihr Smartphone sprechen, das mittels Bluetooth mit dem Soundsystem Ihres Wagens verbunden ist, während Sie am Steuer sitzen und den Anweisungen eines GPS-Geräts folgen, das außerdem in Echtzeit Verkehrsinformationen herunterlädt. Doch damals, als das Modem gurgelte, verstand ich: Dieses Gurgeln wird alles verändern.
Was hat sich, neben dem Offensichtlichen, noch alles verändert?
Dazu muss ich ausholen: Kopernikus, Darwin und Freud stehen für die ersten drei Revolutionen der Wissenschaft. Sie haben dafür gesorgt, dass zentrale Glaubenssätze fielen: Die Erde ist nicht das Zentrum der Welt (Kopernikus), der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung (Darwin), der Mensch ist nicht immer Herr seines Geistes (Freud). Dann kam der Informatiker Alan Turing und schuf die Grundlagen der Informatik. Ich nenne das „die vierte Revolution“. Die Informatik hat die Infosphäre ermöglicht, in der wir heute leben. In dieser Welt spielt der Mensch nicht mehr exklusiv Schach, er baut nicht mehr exklusiv Autos, er herrscht auch nicht exklusiv über Daten.
Sondern?
Er interagiert mit Daten. Mithilfe der Mathematik kodieren wir die Infosphäre. Die Digitalisierung ist Teil unseres alltäglichen Lebens, sie geschieht permanent, ohne unser Dazutun. Während wir beide in Skype miteinander reden, kalkuliert meine Armbanduhr wie viele Schritte ich in den vergangenen Tagen gelaufen bin und überträgt die Daten auf einen Server, der besser über meinen Gesundheitszustand Bescheid weiß als ich selbst. Die Infosphäre gehört zu unserer Identität.
Wir leben halb im digitalen, halb im physischen Raum. Sind wir zu hybriden Wesen geworden?
Ja. Wir sind weder ganz on-, noch ganz offline. Wir leben „onlife“. Wir Menschen sind sehr fragile, sehr durchlässige Wesen – wir sind in der Lage, uns allen Bedingungen anzupassen, an wunderschöne, an schreckliche, auch an künstliche und digitale. Aber das bleibt nicht ohne Konsequenz: Einerseits vereinfacht die Digitalisierung vieles. Auf der anderen Seite schafft sie neue Zwänge. Unser Onlife-Leben verändert unser Verhalten. Zum Beispiel die Art, wie wir kommunizieren.
Sagen Sie nicht: Wir lesen weniger, wir vergessen mehr, wir werden dümmer.
Nein. Die Dummheit von Menschen war schon immer ausgeprägt, so wie die Intelligenz. Aber die digitale Kommunikation macht keine halben Sachen: Sie saugt an uns, sie zieht uns in den Bann, sie kettet uns fest. Sie nährt sich durch unsere Aufmerksamkeit. Der ärgste Feind von Youtube, Netflix oder Facebook ist der Schlaf. Er behütet und schützt uns vor der Lautstärke der Aufmerksamkeitsökonomie.
Weil wir Onlife leben?
Durch die sozialen Medien sind wir Menschen nicht mehr nur Empfänger von Botschaften und Informationen. Jeder ist auch potenzieller Sender. In gewisser Weise haben Milliarden Menschen, Organisationen und Unternehmen heute ein Megafon in der Hand, mit dem sie Botschaften loswerden. Alle buhlen um die Aufmerksamkeit anderer. Wer in diesem Lärm andere erreichen will, muss entweder lauter Schreien oder er muss seine Botschaften vereinfachen.
Halten Sie es für möglich, dass wir unser physisches Leben noch von der Infosphäre trennen können?
Nein. Digitale Technologien rechnen nicht nur schneller, sie arbeiten präziser, sie sind ausdauernder, und: Sie stellen Verbindungen her, und zwar Verbindungen, die es vorher nicht gab. Deswegen sollten wir Menschen besser damit beginnen, uns als „Inforgs“ zu begreifen.
Ein Inforg ist kein solitäres Ich, abgeschnitten von der Außenwelt. Inforgs sind Organismen, die durch die Infosphäre treiben und in ständiger Verbindung mit anderen stehen. Nehmen wir uns in dieser Rolle ernst, sind wir auch in der Pflicht, eine Ethik zu entwickeln, die dieser neuen Lebens- und Arbeitswelt entspricht.
Wie lauten die zehn Gebote für eine Welt, in der alle Lebensbereiche durchdigitalisiert sind?
Es gibt kein Gebot. Was es gibt, ist ein Gesetz: Der Mensch handelt immer nach dem gleichen Muster. Er fragt sich: Wer bin ich? Was soll ich tun? Warum sollte ich das tun? Unser Handeln geht immer von unserem Ich aus. Das Ich aber ist imaginär, aus sich selbst heraus kann es nur schwer existieren. Das Ich existiert immer nur im Gegenüber mit anderen. Wollen wir Dinge also wirklich verbessern, sollten wir unser Handeln nicht nach dem Ich ausrichten, sondern nach dem Wir, also nach demjenigen, der die Auswirkungen unseres Handeln spürt. Unsere neuen ethischen Fragen sollten also lauten: Wer bist Du? Was erwartest Du von mir? Was kann ich tun, was Dir dient und unsere Beziehung stärkt? Dieses Denken sollten wir ins Zentrum der Ethik der Infosphäre rücken. Nicht das persönliche Interesse ist wichtig, der Gemeinsinn ist es.
Erschienen in Brand Eins Wissen, Nummer 1.2020
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