Ihr werdet HUMMUS fressen

In der englischen Grafschaft Gloucestershire hat ein Unternehmer aus einem Provinzverein den ersten veganen Fußballklub der Welt gemacht. Die Geschichte einer Kulturrevolution. Erschienen in Greenpeace Magazin, 2018.

Es begann mit einer Schlacht und als die Schlacht geschlagen war und der Staub sich nach einigen Jahren  gelegt hatte, stand auf einem Hügel vor den Toren von Nailsworth das  außergewöhnlichste Versuchslabor des internationalen Profifußballs.

Wie es dazu kam?

1985. Dale Vince gehört zu den sogenannten New-Age-Travellers, einer Gruppe von 600 friedensbewegten Hippies und Punks, die ein Festival in Stonehenge veranstalten wollen. Natürlich ist das Fest nicht genehmigt. Auf einem Motorrad führt Vince, damals 23, den „Peace Convoy“ an, als sich ihm sieben Meilen vor dem Ziel 1200 Polizisten in den Weg stellen. Es kommt zum „Battle of the Beanfield“, an dessen Ende es einen Berg demolierter Busse, 537 Verhaftungen und viele, viele blutverschmierte Gesichter gibt. Vince kommt unbeschadet aus der Sache heraus, verlässt aber aus Angst vor staatlicher Repression, wie er später sagt, bald danach England, seinen Kopf gefüllt mit Grundsatzfragen wie diesen:

Muss man eine Gesellschaft, deren Maßlosigkeit man ablehnt, bekämpfen?
Ist es nicht ratsamer, sie lieber mit neuen Ideen zu infiltrieren?
Kann man sie
auf diese Weise wirklich verbessern?

Nach über einem Jahr kehrt Vince nach England zurück. Wenige Jahre später gründet er Ecotricity, ein Ökostromunternehmen. Seine Firma hat heute 700 Mitarbeiter, inzwischen ist Vince ein reicher Mann. Von seinem Büro im Stroud, einer Kleinstadt zwischen Cotswolds und der walisischen Grenze, sind es 30 Minuten zu jenem Hügel, wo das derzeit aufregendste Experiment des Weltprofifußballs stattfindet.
Ein Marktplatz, ein Fluss, ein Fish-and-Chips-Imbiss, zwei Supermärkte, vier Kirchen, fünf Immobilienagenturen, 7700 Einwohner, auffällig viele Hundebesitzer, das ist Nailsworth. Die Sunday Times führt das Städtchen in der Liste der 101 lebenswertesten Orte Großbritanniens. Doch trotz des Wohlstands in Nailsworth steht sein Fußballklub vor acht Jahren vor der Pleite, 109 Jahre nach seiner Gründung. Dale Vince, der Missionar, kauft die Rovers. Mit ihnen will er dem englischen Fußball seine neue Botschaft verkünden.

Eines Tages stand er dann vor Mitgliederversammlung und sagte: „Leute, wir werden jetzt vegan.“ Na gut, von mir aus, dachte Tom Newman, heute 70, dann schreiben wir die Menüs unserer Stadionimbisse um und verkaufen den Fans ab sofort Gemüsebratlinge statt Rinderbrühe und Fleischpastete. Wie in Deutschland die Bratwurst begleiten traditionell auch Fleischimbisse den Fußball in England kuliniarisch. „Sie werden es schon verdauen können“, dachte Newman. Bei jedem Heimspiel steht er vor dem Stadion und verkauft die Vereinspostille, treu seit 30 Jahren. Schon bald verordnet Vince den Rovers neue Vereinsfarben, grasgrün statt schwarz und weiß „Einem Fußballverein seine Farben zu nehmen, ist wie einem Menschen das Herz herauszureißen,“ findet Newman. Die Rovers glichen seitdem Grashüpfern, harmlosen Tieren, die in der Natur bloße Opfer von Fleischfressern wären. Vor den neuen Farben hätte kein Gegner mehr Respekt. Newmans Zerissenheit zeigt sich in seiner Tracht, er trägt zwar einen leuchtendgrünen Schal, aber einen schwarz-weißen Rovers-Sticker auf seiner Schiebermütze.

Doch alles nach der abgeschlossenen Transformation, zu einem weitgehend veganen und ökologischen Fußballverein, sei gut für Klub, Spieler, Fans und das Ansehen von Nailsworth gewesen, sagt Newman. Dann zählt er ein einzelne Maßnahmen auf, die Vince durchgesetzt hat: der Greenman, der den Stadionrasen nur noch ökologisch düngt und auf Pestizide verzichtet; der Strom von den 180 vereinseigenen Solarpanels, das Brauchwasser von der Auffanganlage auf dem Stadiondach; die Ladestationen vor dem Stadion, für Fans mit E-Autos; und die neue Küchenchefin, die für Vereinsangestellte, Spieler und auch für die Stadionimbisse ausschließlich vegan kocht, dort wo auch die Gästefans essen. Als die Rovers im Sommer 2017 in die League Two aufsteigen, die vierte Profiliga Emglands, ruft Bob Hunt, ein Sportkommentator der BBC den zukünftigen Gegnern der Rovers durch das Radio zu: „Hallo England, hallo Cheltenham, Swindon und Mansfield – in der nächsten Saison werdet ihr Hummus fressen.“
In England, Schottland und Wales ernähren sich inzwischen und eine halbe Million Menschen vegan. Und auch im Profifußball ist Veganismus angekommen, nicht nur bei den unterklassigen Rovers: Rotes Fleisch ist verboten, das ist Gesetz, sonst aber werde kein Spieler zum Veganismus gezwungen, sagt Vince. Sein Klub mache seinen Angestellten dieses Angebot:

  1. Sei als Profifußballer Teil einer Bewegung, die dagegen ist, wenn Tiere für die Ernährung von Menschen sterben müsse.
  2. Ernähre Dich so, wie es deine Leistung und deine Regeneration verbessert und deine Verletzungsanfälligkeit verringert.
  3. Jeder Spieler, der sich vegan ernähren möchte, bekommt die volle Unterstützung des Vereins, die Vereinsköchin Em unterstützt bei den Ernährungsplänen, der Fitnesscoach überwacht die Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Spieler.

Fotos (von links oben nach rechts unten): Ein normaler Spieltag im Stadion an der „New Lane“ in Nailsworth; Mansfield-Fan ohne Folklore I; Match-Vorbereitungen in der veganen Küche; volle Tolle im Vereinsheim; ein Junge unter den Rovers-Cheersleaders; Mansfield-Fan ohne Folklore II.

Nicht nur in der Provinz, auch im großen Profisport Englands hat sich Veganismus als Ernährungsoption durchgesetzt. Der englische Nationalstürmer Jermaine Defoe, heute 35, geriet in eine Krise, nachdem sein Bruder überfallen wurde und an den Folgen einer Kopfverletzung starb. Er wechselte aus der englischen Premier Leaugue in die schwächere kanadische Liga nach Toronto. Dann stellte er seine Ernährung um, Defoe strich Schokolade, Honig, Eier und den von ihm geliebten Räucherlachs vom Speiseplan, stattdessen gab es viel Spinat, Kohl, Brennnesselsäfte. „Es ist schwierig auf Gewohnheiten zu verzichten“, sagte Defoe dem „Guardian“, nachdem er in die Premier League zurückgekehrt war. „Meine Freundin zeigte mir immer wieder Dokus über vegane Ernährung und sagte: Mach das. Sie hat mir bei meiner Transformation sehr geholfen!“ Seit Defoe Veganer ist, erlebt er als Stürmer eine Renaissance: Er schießt so viele Tore wie lange nicht. Vor einem Jahr holte Englands Nationaltrainer Gareth Southgate ihn für das Spiel gegen Deutschland zurück in die Nationalmannschaft. Lange gehörte Defoe zum erweiterten Kreis der Auswahlspieler für die Weltmeisterschaft in Russland.

Partiell, aber immerhin, auch im deutschen Profifußball setzt sich die Erkenntnis durch, dass vegane Kost Leistung steigern und Verletzungen verringern kann. Thomas Tuchel, unter seinen Kritikern im Branchenjargon auch abfällig Tofu-Tuchel genannt, ist Vorreiter der Entwicklung. Nachdem der Fußballlehrer, der sich selbst meist vegan ernährt, vom FSV Mainz 05 zum BVB nach Dortmund wechselte, war eine seiner ersten Amtshandlungen, den Speiseplan der BVB-Profis umzuschreiben. Weizen, Getreide, Zucker waren gestrichen. Fisch und Fleisch ebenfalls. Tuchels Ernährungsumstellung macht die Spieler fit. Mats Hummels wog im Vergleich zum Vorjahr unter Jürgen Klopp drei Kilogramm weniger. Darauf angesprochen sagte er damals, er fühle sich fitter und wacher. „Normale Milch konsumiere ich beinahe gar nicht mehr, Käse auch viel weniger. Und ich versuche, nicht jeden Tag Fisch oder Fleisch zu essen“, sagte Mats Hummels der Frankfurter Rundschau. Er ernähre sich noch nicht vollvegan,  habe aber einige Lebensmittel aus diesem Bereich in seinen Haushalt aufgenommen, beispielsweise Sojamilch.

Viele seiner Mitspieler sagten, dass sie sich sehr fit fühlten. Das läge nicht nur an der Ernährung, aber auch daran. Wie Hummels konnten auch Ilkay Gündogan und Marcel Schmelzer nach der Umstellung der Ernährung ihr Gewicht um bis zu vier Kilo reduzieren. Um Entzündungsherde im Körper zu verringern und Muskelverletzungen vorzubeugen, hat auch der Fitnesstrainer des Bundesligisten Eintracht Frankfurt Milch- und Weizenprodukte verboten. Marco Sailer, ein Mann mit dem längsten Bart der Bundesliga und einst Spieler beim SV Darmstadt 98, seit Juni 2015 Veganer, berichtete im Focus über seine Ernährungsumstellung. Früher hätten ihn häufig Muskelfaserrisse geplagt. Das habe abgenommen, seitdem er sich vegan ernährt.

Holger Stromberg, 46, war zehn Jahre lang Küchenchef und Ernährungsberater der deutschen Fußballnationalmannschaft, auch während des WM-Siegs in Brasilien 2014. Er empfiehlt eine vegane Ernährung an fünf Tagen in der Woche, für Spitzen- aber auch für Normalsportler. „Wer das einhält, wird fitter, vitaler und wacher,“ sagt er. Der Sportwissenschaftler Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule sagt: „Leistungssportler, die extrem auf ihr Gewicht achten wollen, verzichten oft auch auf tierische Produkte.“ Das muss nicht gut sein. Mit dem Verlust an Gewicht, werden Sportler zwar meist auch leistungsfähiger. Oft würden Hand in Hand damit auch Lebensmittel vom Ernährungsplan mit weggestrichen, die wichtig sind. Vitamine, wie B12, B6 und D, oder Mineralien wie Zink, Eisen, Calcium und Omega-3-Fettsäuren müssen ausgeglichen werden, falls Mangelerscheinungen auftreten. Froböse meint, es spreche für Leistungssportler zwar nichts dagegen, sich vegan zu ernähren. Mehr als für andere Sportler gelte aber, dass sich Veganer intensiver mit ihrer Ernährung auseinandersetzen müssen. Deshalb gäbe es eben viele Sportler, die schon nach einem halben Jahr die vegane Ernährung wieder aufgegeben.

Es ist Matchday in der „New Lawn“. Das Stadion der Rovers fasst 5147 Zuschauer, heute ist es zur Hälfte besetzt, trotz der Brisanz des Spiels. Im Schnitt besuchen rund 4400 Zuschauer die Spiele der Liga. Das Team tritt gegen Mansfield Town FC an. Beide Mannschaften müssen gewinnen, die Rovers spielen gegen den Abstieg, Mansfield um den Aufstieg. Auf der Speisekarte des Stadionkiosks heute: Süßkartoffeln mit Kokusnußsoße, Mexikanische Fajitas, Kirchererbsensuppe, Linsensalat und natürlich der Verkaufsschlager, der mit Hummus bestrichene Veganburger. Aus Mansfield sind 217 Fans angereist, darunter auch der Klubpräsident John Radford, ein Geschäftsmann, eingeflogen mit dem Hubschrauber. Dale Vince schwebt zu Heimspielen aus Stroud in seinem E-Mobil an, einem BMW i3.

In der Elf der Rovers, die nun einläuft, ist nur ein Spieler, der sich vollvegan ernährt. Wie Jermaine Defoe experimentiert auch der rechte Verteidiger der Rovers Dale Benett, 28, seit einigen Jahren mit seiner Ernährung, wird er nach dem Spiel Journalisten in die Aufnahmegeräte diktieren. Im letzten Jahr hat er dann beschlossen, vegan zu bleiben. „Früher war ich am Morgen nach hohen Trainingsbelastungen sehr müde. Seit ich mich vegan ernähre, regeneriert mein Körper schneller als jemals zuvor,“ sagt er höflich, obwohl ihm die Fragen nach seiner Ernährung augenscheinlich wundern. Er sei ja kein Außerirdischer, er esse bloß keine tierischen Produkte. „Elefanten, Gorillas, Nashörner, Wale – die größten und stärksten Tiere der Welt sind keine Fleischfresser,“ sagt Benett. „Warum sollten die Rovers nicht bald zu den stärksten Teams der Liga gehören?“
Wie an den allermeisten Tagen im Jahr zieht auch jetzt ein kräftiger Wind durch das Stadion. Die „New Lawn“ liegt am nördlichen Rand von Nailsworth, auf einem Hügel. Hier hat Dale Vince vor einigen Jahren zwei Windkraftanlagen in Sichtweite des Stadions installieren lassen. Wie ökologische Wahrzeichen stehen sie vor den Toren von Nailsworth. Der Schiedsrichter schaut noch einmal kurz auf seine Armbanduhr. 15 Uhr. Von den gegnerischen Rängen werden die Rovers noch von angetrunkenen Mansfieldfans als kraftlose Gemüsefresser verhöhnt. Was soll’s. Ein Pfiff, ein Spiel, ein Endstand: Gemüse gegen Fleisch. 2 zu 0. Auch Mansfield musste Hummus fressen.

Spitzensport und Veganismus
Im Profifußball ist vegane Ernährung seit einigen Jahren ein großes Thema. Doch auch in anderen Sportarten gibt oder gab es vegane oder teilvegane Spitzensportler. Ein Vorreiter war Carl Lewis. Der US-Sprinter war einer der ersten Weltklasseathleten, die sich vollvegan ernährt haben. „Meine besten Leistungen habe ich abgeliefert, nachdem ich mich ein Jahr lang vegan ernährt hatte“, hat Lewis viele Jahre nach seinen größten Erfolgen dem Nachrichtensender CNN in einem Inteview gesagt. Mit 30, in einem für Sprinter damals hohen Alter, verbesserte Lewis 1991 auf der 100-Meter-Strecke den Weltrekord auf 9,86 Sekunden. Novak Djokovic, jahrelang Nummer Eins im Welttennis, sagte, dass er fitter und schneller als seine Kontrahenten geworden sei, nachdem er seine Ernährung auf teilvegan umgestellt hatte – er isst heute hin und wieder noch Fischgerichte. Atem- und Muskelprobleme seien seitdem verschwunden. Ebenso vegan sind NBA-Basketballer Dirk Nowitzki, die Tennisweltklassespielerinnen Serena und Venus Willams, Formel-I-Weltmeister Lewis Hamilton und der US-Ultratriathlet Rich Rol.