Die schnelle Geschichte über meine Halskette. Erschienen in Die Zeit, 2018.
Neulich beim Boxtraining. Mein Trainingspartner, ein Personenschützer, und ich schlagen uns eine Stunde lang unsere Fäuste gegenseitig in die Pratzen und Bauchdecke, dann geht’s zum Duschen. Sein Job hat ihn über die Jahre paranoid gemacht, sagt er. Deshalb schläft er mit seiner Pistole unterm Kopfkissen. Als er sein T-Shirt auszieht, fällt mir seine Halskette auf der Brust auf.
„Was ist das für eine Kette?“, frage ich ihn.
„Die Reinigungskette für den Lauf meiner Baretta 92.“
„Welches Kaliber hat die Kugel an der Kette.“
„9 Millimeter.“
„Und warum trägst du die?“
Er schweigt. Während ich mein Shirt abstreife, fällt sein Blick auf meine Goldkette. „Was ist das für eine Mädchenkette?“, fragt er. Ich lebe seit 48 Jahren in diesem Land. Im Laufe meines ungewollten Lebens als italienisches Abziehbild für Deutsche habe ich mich an vieles gewöhnt. In bürgerlichen Kreisen gilt ein Mann mit Goldkette als Prolet und Zuhälter. Unter Linken als Lackaffe und Frauenumleger. Deutsche Männer dürfen sich mit den beklopptesten Dingen behängen, denke ich, einem Italiener aber wird sein Behängnis noch immer zum Verhängnis. Jetzt also neu im Sortiment: Mädchen. „Pass auf,“ sage ich zum Personenschützer, „ich erzähle dir meine Goldkettengeschichte, dann erzählst du mir die deiner Reinigungskette,“ und gehe in Vorleistung.
„Mein Vater, ein Tischler, ist mit dem Schwung an Arbeitskräften Ende der 50er-Jahre nach Hamburg gekommen. Bevor es auf die Reise ging, wurde er mit anderen süditalienischen Arbeitern in einem Sammellager in Neapel zusammengebracht. Dort entkleidete er sich, sein Körper wurde vermessen, mit einem festen Fingergriff wurde sein Anuskanal abgetastet, dann musste er ein paar durchgeknallte Fragen über sich ergehen lassen, unter anderem, ob er Bettnässer sei. Mit einem Filzstift wurde meinem Vater dann eine Nummer auf den rechten Oberarm geschrieben und die Reise zum Rande des Polarkreises begann.
Unter seinen Angehörigen galt Hamburg als eine verrohte Stadt, in der es an sieben von zwölf Monaten schneit und die Dirnen selbst bei Eiseskälte halbnackt auf die Straßen eines Viertels geschickt werden, das sie dort ausgerechnet nach dem heiligen Paulus benannt hätten. Bei Blohm & Voss gelandet, ließ mein wehrloser Vater sich dann jahrelang seine Lungen vom schwebenden Asbeststaub durchlöchern. Wenige Wochen vor seinem Tod hängte er sich als letzte Hoffnung dann eine Goldkette mit einem Kruzifix um den Hals, die er mir versprach, sobald sein Leben leergelebt sei.
Heute trage ich seine Kette. Für mich ist sie wie sein letztes Organ, das die Migration überlebt hat. Jedes einzelne ihrer Glieder hat ein S-Profil. S wie Salvatore, deutsch „der Retter“, der Name meines Vaters. An meiner Kette hängt heute sein Kruzifix, ein in einer Goldkapsel gefasster Milchzahn meiner Tochter, und ein Horn (ital. corno), ein Geschenk meiner katholischen Eltern zur Firmung, das vor Neid, Hass, Verrat und übler Nachrede schützen soll. Bisher hat es funktioniert.
Im Sommer 1983, als mein Vater die Kette kaufte, war eine Unze Feingold 430 US-Dollar wert. Zurzeit liegt der Preis bei rund 1200 Dollar. Mit all dem Geklimper an der Kette trage ich jeden Tag also umgerechnet 1000 Euro mit mir herum. Aber natürlich ist das nicht der wahre Wert der Schmuckstücks: Gold zu verschenken, zu Geburten, Kommunionen und Hochzeiten, ist unter unter italienischen Katholiken lange ein übliches Ritual gewesen. Die Gastgeber wurden sozusagen auf biblische Weise beschenkt, wie einst Jesus Christus von den Heiligen Drei Königen – zu dessen Geburt brachten sie ihm Weihrauch, Myrrhe und auch Gold als Zeichen des Reichtums.
Im Italien der Nachkriegszeit waren Goldgeschenke auch deshalb angebracht, weil in Italien Wirtschaftskrisen kamen und gingen wie die Ministerpräsidenten. Meine Großmutter hat allein in den Jahren zwischen 1945 und 1957 zwölf Regierungen erlebt. Sie trug damals eine Goldkette mehrmals gewickelt um das Dekolette, die ihr in voller Länge bis zu den Knien ging, das ist kein Scherz. Die Kette war ein Geschenk ihrer Schwiegereltern zur Hochzeit. Irgendwann trug meine Großmutter dann ihre Kette zum Juwelier um mit den 12.000 Lire, die sie Ende der 50er-Jahre dafür bekam (rund 80 Mark), das Grundstück zu kaufen, auf dem heute das Haus der Familie steht. Es ist prall gefüllt ist mit den goldenen Erinnerungen von 4. Generationen.
Das war die Geschichte meiner Goldkette. Jetzt bist du dran, mein Freund. Welchen Wert hat deine Kette für dich?“, frage ich ihn.
Der Text ist erschienen in Die Zeit, 3.2017.