Frische fürs System!

bern 4.16 © Vito Avantario

Seit April 2016 ist die Politikwissenschaftlerin Patrizia Nanz, 50, Direktorin am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam. Mit Claus Leggewie hat sie im Wagenbach Verlag das Buch „Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung“ herausgegeben. Ein schnelles Gespräch über die Zukunft der Demokratie. Erschienen im Greenpeace Magazin, 2016.

Die Zahl der Politik-Frustrierten wächst, die Wahlbeteiligung sinkt, eine radikale APO von Rechts erobert die deutschen Marktplätze. Ist die Demokratie, wie wir sie kennen, ein Auslaufmodell? Noch nie war der deutsche Durchschnittsbürger so frei, so informiert, so politisch mündig wie heute. Gleichzeitig fühlen sich 25 bis 30 Prozent der Deutschen von den Parteien nicht mehr repräsentiert. Die Demokratie wie wir sie kennen hat Ermüdungserscheinungen, kann aber durch mehr Beteiligung der Bürger revitalisiert werden.

Woher kommt der Frust? Das politische Bewusstsein der Menschen in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt, die Erwartungen an die Parteien sind gestiegen. Der parlamentarische Streit – ein wichtiger Motor jeder Demokratie – ist aber weitgehend gezähmt. Ständig ist von Alternativlosigkeit die Rede. In der Demokratie aber muss es ihrem Wesen nach stets Alternativen geben, sonst wäre sie nicht gesund. Deshalb fühlen sich immer mehr Menschen politisch abgehängt.

Mit dem Politikwissenschaftler Claus Leggewie schlagen sie eine Erneuerung der Repräsentativen Demokratie vor. Die Gewaltenteilung aus Legislative, Exekutive und Judikative soll um eine weitere Säule erweitert werden, die „Konsultative“. Warum? Wir glauben, dass die politische Beteiligung schlecht organisiert ist. Deshalb soll die „Konsultative“ dem Volk ein verfassungsgemäßes Recht geben, Teil von politischen Prozessen zu sein, die letztlich zu Entscheidungen über das Leben der Bürger führen. Die „Konsultative“ kann eine Art politische Echokammer werden, die in die Politik einspeist, was die Bürger bewegt.

Es gibt Stadt-, Bezirks- und Kreisparlamente, Bürgerräte und Volksbegehren, Petitionen und das Recht auf Demonstration – mehr denn je kann der Demos, das Volk, heute politisch teilhaben – er nimmt seine Möglichkeiten allerdings nicht ausreichend wahr. Das scheint eher das Problem zu sein. Nicht nur. Politik muss heute über Kontinente und auch über zukünftige Generationen hinweg Antworten auf die großen globalen Fragen der Menschheit liefern – wenn sich das Klima in Grönland verändert, dann steigt in Hamburg der Pegel der Elbe. Mehr denn je muss lokale Politik Lösungen für globale Herausforderungen finden und Dinge beschließen, welche die kommenden Generationen betreffen. Deswegen schlagen wir vor, flächendeckend sogenannte Zukunftsräte einzuführen.

Welche Aufgabe haben die? In Zukunftsräten beraten und diskutieren Menschen, die nach Herkunft, Bildung, Alter und soziale Schicht verschiedene Gesellschaftsgruppen repräsentieren, auf Landes-, Bundes- oder Europaebene in regelmäßigen Abständen über generationenübergreifende Fragen – unabhängig von den Parteien.

Wer darf einem Zukunftsrat angehören, wer wählt die Mitglieder aus und wie lange sind sie darin tätig? Unser Vorschlag lautet: Die Räte bestehen aus per Zufall ausgewählten Bürgern ab einem Alter von 14 Jahren. Sie sind für zwei Jahre im Einsatz. Endlagerfrage, Klimawandel, Migration: Die Räte besprechen Themen, die das Leben in ihrer Gemeinde oder eben auch auf europäischer Ebene die nächsten Jahre oder Dekaden bestimmen werden. Ihre Ergebnisse und Vorschläge bringen sie in die Politik ein. Wir glauben, dass Menschen sich so in politische Prozesse stärker eingebunden fühlen und wieder Alternativen zu entwickeln helfen, die am Gemeinwohl orientiert sind.

Können Herrschende ein Interesse daran haben, dass ihre Arbeit transparenter, kontrollierter, beeinflussbarer wird? Ja. Denn Politiker, die an den Bürgern vorbeiplanen, müssen mit Protesten, Verzögerungen und Blockaden rechnen. Bürger, die am politischen Prozess teilhaben, tragen Entscheidungen der Volksvertreter stärker mit. Der Politikfrust würde sinken.

Wie könnten Zukunftsräte zum Beispiel den öffentlichen Diskurs um den Weltklimavertrag positiv beeinflussen? Zukunftsräte würden sich mit den Auswirkungen des Klimaabkommens auf zukünftige Generationen beschäftigen: Was muss lokale Politik tun, um die vereinbarten Ziele zu erreichen? Was bedeutet die globale Vereinbarung für die nationale und regionale Wirtschafts-, Energie-, Agrar- und Sozialpolitik in – sagen wir einmal – 30 bis 50 Jahren? Zukunftsräte könnten die Fixierung der Politik auf die Gegenwart auflösen und unserer Demokratie neues Leben einhauchen.

Gespräch: Vito Avantario