Die Regisseurin Doris Dörrie hat in der Sperrzone von Fukushima ihren neuen Film gedreht. Ein Gespräch über ihre besondere Verbindung zu Japan, die schwierigen Drehbedingungen und das Leben der Menschen in den Notunterkünften. Erschienen im Greenpeace Magazin, 2016.
Frau Dörrie, lassen Sie uns über Schmerz sprechen. Ja, das können wir machen. Wir Menschen verbinden uns ja eher über das Leiden, als über das Glück – wenn wir es denn überhaupt miteinander teilen. Die buddhistische Lehre beschreibt Leid als normal und damit als eine der zentralen Säulen des Lebens.
Sie beschäftigen sich seit langem mit dem Buddhismus. Praktizieren sie regelmäßig? Ich bin Schülerin des vietnamesischen Zenmeisters Thich Nhat Hanh, aber zur Zeit bin ich eine eher nachlässige. Es gibt eine buddhistische Übung, die sich „Das tiefe Schauen“ nennt. Sie lehrt, dass wir durch genaues Hinsehen unsere Verbindung mit der Welt und anderen Menschen empfinden können, ihre Freude, aber auch das, was ihnen Leid zufügt. Zu versuchen, anderen kein Leid zuzufügen, das sollte die Lehre daraus sein.
Die Menschen in Deutschland müssten eine tiefe Verbindung mit jenen aus Fukushima spüren – die Reaktorkatastrophe, ihr Leiden, das immer noch andauert, hat unseren Atomausstieg ermöglicht. Ja. Leider aber sind die Bewohner von Fukushima in Vergessenheit geraten, nicht nur bei uns, auch in Japan. Niemand kümmert sich um die Bewohner der Notunterkünfte. Sie leben seit Jahren in Containern und fühlen sich von der Politik vergessen. Kaum einer berichtet über sie.
Sie haben eine besondere Verbindung zu Japan: Als junge Frau sind Sie durch das Land getrampt. Seitdem reisen Sie sehr oft noch dorthin, auch um zu drehen. In Ihrem neuen Film „Grüße aus Fukushima“ fliegt eine junge Deutsche nach Japan, um den Leuten in den Notunterkünften zu helfen. Warum nun ausgerechnet ein Film über Fukushima? Wenn sie also einen Film machen wollen, in dem es um Vergangenheit und Verantwortung geht, drängt sich Fukushima förmlich auf: Die Erdbeben- und Tsunamigefahr in der Küstenregion war lange bekannt. Dennoch wurden dort Atomreaktoren gebaut. Nach der Dreifachkatastrophe wurden die Überlebenden alleingelassen.
Vor Ort trifft die junge Deutsche auf die letzte Geisha Fukushimas, die mit der Schuld lebt, ihre Auszubildende, in die Wellen des Tsunamis gestoßen zu haben, um sich selbst zu retten. Es wäre naheliegend gewesen, einen Film zu drehen, in dem Männer die Hauptrollen spielen – die Atomkatastrophe wurde von Männern verursacht, die nationale Krise von Männern gemanagt. Sie haben sich aber für Frauen als Protagonisten entschieden. Warum? Der sogenannte „Sensei“, der japanische Meister, ist immer ein Mann. Ich aber wollte vom ungewöhnlichen Verhältnis einer Meisterin zu ihrer Schülerin erzählen. In Fukushima sind es vor allem die Frauen, die das Sozialleben am Laufen halten. Die graziöse Geisha wird von Kaori Momoi gespielt. Sie ist 63 Jahre alt. Ihr Bekanntheitsgrad in Japan ist mit dem von Meryl Streep in den USA vergleichbar. Die 28-jährige Rosalie Thomass spielt ihre im Vergleich ungeschickte, neue Schülerin. Die beiden kulturell sehr unterschiedlich geprägten Frauen begegnen sich distanziert, finden aber letztlich freundschaftlich zusammen, weil sie die schmerzhaften Erfahrungen der jeweils anderen erkennen und annehmen können.
Die Komparsen sind fast ausnahmslos Menschen aus Notunterkünften. Wie konnten Sie sie für Ihren Film gewinnen? Fukushima ist ein tragischer Ort: In den Ruinen, an denen wir wochenlang mit unseren Kameras entlang fuhren, lagen ja vor einigen Jahren Leichen, sehr viele Leichen; und von der Küste wehte ständig ein radioaktiver Wind zu uns rüber – wenn Sie eine Zeit lang an so einem Ort leben und arbeiten, verstehen sie, warum viele Menschen in Fukushima depressiv geworden sind, vor allem die Männer. In ihrer Apathie verlassen viele von ihnen ihre Wohncontainer nicht mehr. Als wir kamen, waren sie froh darüber, dass wir uns für ihr Leben interessieren. Sie haben uns mit offenen Armen empfangen und sich über die abwechslungsreichen Filmarbeiten gefreut.
Warum sind ausgerechnet Männer in Fukushima depressiv? Offenbar sind Männer nicht so krisenfest. Auffällig viele von ihnen betrinken sich, oder sind spielsüchtig. Viele haben sich auch umgebracht. Schuld ist ein fundamentales Gefühl vieler Menschen in Fukushima: Als der Tsunami über sie kam, haben sie sich an Laternenpfählen, Hauswände oder Bäume geklammert, um sich zu retten. Heute fragen sich viele: Warum habe ausgerechnet ich überlebt? Habe ich jemandem, der um sein Leben gekämpft hat, meine Hilfe verweigert? War ich egoistisch? Ist aus diesem Grund jemand gestorben?
Und was dagegen hält die Frauen aufrecht? Die Kultur der Haltung und des Ertragens. „Gaman“ sagt man auf japanisch: Wenn nach einem katastrophalen Ereignis nichts mehr so ist, wie es einmal war, hilft es sehr, wie in Japan eine Tradition der Achtsamkeit zu haben, die die Aufmerksamkeit auf den Moment legt. Das tun die Frauen von Fukushima. Und das tut auch die Geisha im Film. Wie sitze ich am Teetisch? Wie halte ich die Teeschale? Wie gieße ich aus den Tee ein? Daran orientiert sich die Geisha und das ist es, was sie ihrer neuen Schülerin weiterzugeben versucht.
Die Geisha wird zwar durch ihr kulturtelles Korsett aufrecht gehalten. Emotional ist sie aber völlig erstarrt. Ja. Ihre sinnsuchende – aber innerlich gelöste Schülerin – bringt der Geisha wieder bei, sich dem normalen Leben zuzuwenden. In gewisser Weise entdecken die beiden sehr unterschiedlichen Frauen also durch das „tiefe Schauen“ in das Wesen des anderen ihre Verbundenheit zueinander.
Die Dreharbeiten haben neun Wochen gedauert. Dafür haben Sie sich mit Ihrem Team in einem Hotel in Minamisoma einquartiert, rund zehn Kilometer von der Atomkraftanlage entfernt. Wie haben Sie sich vor der Radioaktivität geschützt? Das Hotel war ein so genanntes „Containerhotel“, in dem vor allem Bauarbeiter und Tagelöhner leben. Sie befreien das Gebiet um die Reaktoranlage von kontaminierter Erde. Bett, Toilette, Spint – die Wohncontainer sind schlicht eingerichtet. Während der Dreharbeiten haben wir die Radioaktivität gemessen. Die Strahlung in der Luft entspricht inzwischen der durchschnittlichen Strahlung von München. Außerdem hatten wir vorher Bodenproben entnommen und uns von Experten des Helmholtz Instituts in Deutschland beraten lassen.
Nach „Erleuchtung garantiert“, „How to cook your life“ und „Kirschblüten“ ist „Grüße aus Fukushima“ erneut ein Film, der in gewisser Weise buddhistisch durchzogen ist. Ist er deshalb auch ein buddhistischer Film? Ich glaube nicht. Aber es gibt einen buddhistischen Kernsatz, nach dem ich mich versuche zu richten, auch beim Filmemachen: „Always stay open, never close down.“ Bleibe stets offen, verschließe dich nie. Das ist auch der Grund dafür, warum ich für diesen Film auf künstlich geschaffene Situationen verzichtet habe: Normalerweise blenden Regisseure bei Ihren Drehs die Realität so weit wie möglich aus – sie sperren Straßen ab, schließen die Öffentlichkeit aus Restaurants aus oder bauen künstliche Kulissen, um das perfekte Set zu schaffen. Ich aber wollte die wirkliche Sperrzone, die wirklichen Häuser, die wirklichen Menschen. Der Zuschauer soll so unmittelbar wie möglich spüren, was die Menschen in Fukushima jeden Tag erleben. VON VITO AVANTARIO
Nach einem Gespräch mit Doris Dörrie.
Grüße aus Fukushima. Drehbuch und Regie: Doris Dörrie.
Verleih: Majestic Film, Berlin, Kinostart: 10. März