Am Ende Paris (2)

Melancholie in Zeiten der anbrechenden Globalisierung.
Erzählung über die Liebe. 10 Wochen, 10 Folgen.
Text und Fotos: Vito Avantario

Teil 2
Tokio, August 1992
Best of Caetano Veloso (Kassette)

Ein Foto von 1992, aufgenommen in Shinjuku. Im Bildhintergrund überstrahlt massive Leuchtreklame die Fassaden der Hochhäuser. Vorne laufen Angestellte mit Anzügen durchs Bild. Links parken mehrere Limousinen vor einem öffentlichen Gebäude. Sie besetzen die gesamte Straßenzeile. An dieses Detail im Foto konnte er sich gut erinnern. Die Autos standen schon länger an dieser Stelle, er war oft hier vorbeigekommen als er auf dem Weg in ihre Wohnung war. Seit Wochen hatten sie dort ihren festen Platz. Sie waren nie von der Stelle bewegt worden. Offenbar gehörten die Limousinen zum Fuhrpark des Shinjuku Washington Hotels.
In der Mitte des Fotos stehen zwei Menschen, eine Frau, ein Mann. Sie hat Ihre Hände von der Seite auf seine linke und rechte Schulter gelegt, als wolle sie sagen, seht her, das ist meiner. Er steht frontal zur Kamera, schiebt seine rechte Schulter unter ihre linke und hat seinen rechten Arm um ihre Hüfte gelegt. Beide tragen an jenem Tag, als sei das Foto inszeniert, blaue Hemden, blaue Jeans, blaue Sneaker. Als das Bild geschossen wurde, waren es noch drei Tage bis zu seiner endgültigen Abreise.
Am Abend vor seinem ursprünglich geplanten Abflug vor drei Wochen war er mit einem Freund durch die Bars von Tokio gezogen. Amerikaner, Briten, Italiener, Deutsche, Australier, Brasilianer – Menschen aus aller Welt kamen hierhin, Japaner dagegen kaum. Er sah sie inmitten einer Gruppe von Männern, die ihr an den Lippen hingen, während sie offensichtlich mit einer Geschichte gegen die Musik anerzählte. Es lagen vielleicht sieben Meter zwischen ihnen beiden. Die Bar war prall gefüllt. Er konnte nicht hören, welche Sprache sie sprach. Sein Blick blieb nur kurz an ihr haften, gerade so lange, wie jemand benötigt eine ihm auffällige Situation zu erfassen, von der er aber nicht ahnt, dass sie von Bedeutung sein könnte. In diesem Moment wandte sie sich ihm zu und ihre Blicke trafen sich für die Dauer von zwei Wimpernschlägen. Es war als hätte sie in diesem Augenblick eine Vereinbarung mit ihm getroffen: „Jetzt nicht. Später.“
In welcher Bar er sich gerade aufhielt, wusste er nicht. Seitdem er vor drei Wochen in Tokio gelandet war, lief er die Straßen seines Viertels Minato-Ku Tag für Tag in immer größer werdenden Kreisen ab um seinen Radius zu erweitern. Straßennamen konnte er nicht lesen. In seinem Notizbuch hatte er fünf Adressen notiert. Bei seinen Recherchen für eine Reportage über das Geschäft japanischer Industrieller mit brasilianischen Animiermädchen verließ er sich darauf, dass Taxifahrer ihn an die richtigen Orte bringen würden, und auf seinen Freund, einem deutschen Gastdozenten an der Gakugei-Universität von Tokio. Wann immer er die Orientierung in der Stadt verlor, rief er ihn an. Der leitete ihn dann von Büro oder Wohnung aus per Telefon durch die Stadt zu seinem Ziel.
Die Hitze hatte sich in diesem Ausnahmesommer wie ein schwerer Mantel über die Stadt gelegt. In den Nachrichten des Fernsehens klagten die Bauern wegen des Wassermangels über schlechte Ernten, sagte ihm sein Freund. Es war August. Seine Haut war von einem dünnen Schweißfilm überzogen. Es war ein, zwei oder vielleicht drei Uhr in der Nacht, er hatte das Zeitgefühl verloren, saß unbeteiligt auf einem Straßengeländer vor der Bar und hatte nicht bemerkt, wie sie sich ihm näherte und sich neben ihm setzte. Sie stützten gleichzeitig ihre Hände auf den warmen Stahl der Absperrung.

„Hi,“ sagte sie kurz, wie man einen alten Bekannten begrüßt. Alle Gespräche, die sie später miteinander führen sollten, würden sie in einem Kauderwelsch aus brasilianisch, italienisch und englisch führen, das sie beide als einzige Sprache aber nur schlecht sprachen. Er grüßte sie ebenso vertraut. Mehr sagten sie bei dieser ersten Begegnung nicht. Anstelle dessen schauten sie dem Treiben der anderen Gäste zu. Viel gab es aus seiner Sicht ohnehin nicht zu sagen, wenn man einer Frau zum ersten Mal begegnet. Und auch sie schien dies so zu sehen, denn sie versuchte erst gar nicht ein gestelztes Gespräch aufkommen zu lassen. 15 oder 20 Minuten saßen sie so dar ohne ein Wort zu wechseln. Keinen von beiden schien es zu stören.
Dann verabschiedete sie sich mit einem höflichen Nicken und zog mit einem Freund weiter. Er schaute ihr noch kurz hinterher. Dann wandte er sich seinem Freund zu, der von der Toilette zurückkam. Auch sie zogen bald weiter ohne ein genaues Ziel zu haben. Auf halber Strecke ins Vergnügungsviertel Roppongi hielten sie vor dem Schaufenster eines buddhistischen Devotionaliengeschäftes. Dann flanierten sie weiter, als er sie auf der anderen Straßenseite erblickte. Er war sich nicht sicher, und es klingt verrückz, aber es schien ihm in diesem Moment, als würden sich über die Distanz von dreißig Metern ihre Blicke kurz treffen, um einen Treffpunkt auszumachen. Anders konnte er sich jedenfalls den Zufall nicht erklären, dass er sie kurz darauf in einem Club wiedertraf, in dem ihre erste gemeinsame Nacht ihren Lauf nahm.
Der DJ im Gaspanic Club legte idiotischerweise eine Reihe uralter Beatles-Platten auf (Back in the USSR, Michelle, Hey Jude) die von dem Publikum kreischend bejubelt wurden. Der Saal kochte, doch es interessierte sie beide nicht. Was sie miteinander redeten, hatte ebenfalls kein Gewicht. Er konnte sich schon am nächsten Tag an nichts mehr erinnern. Was er hingegen noch Jahre später nicht vergessen konnte, war dieser unglaublich feste Biss, den sie ihm während eines ihrer Versuche, ein normales Gespräch miteinander zu führen, aus schleierhaften Gründen in seinen rechten Oberarm gab. Erschrocken schaute er sie an. Dann lachten sie beide, er mit schmerzerfüllter Miene.

Tokio erwachte. In den nächsten zwei Wochen bis zu seiner endgültigen Abreise würde sie unter sich bleiben. Kein Dritter sollte in ihre Welt eindringen. Sie würden schnell spüren, dass sie sich genug waren. Andere Menschen kannte sie ohnehin kaum in der Stadt. Er kannte nur den einen, seinen deutschen Freund, den er am nächsten Tag wissen lassen würde, dass er seinen Aufenthalt verlängert, auf ungewisse Zeit. Sein Freund erklärte ihn daraufhin für verrückt.
Weil es nicht zu vermeiden war, sprach sie hin und wieder mit dem Boss ihrer Vermittlungsagentur. Er war der einzige, der ihre Zweisamkeit stören würde. Sie kannte seine Regeln: Jeden Tag eine Stunde Fitnesstraining, eine Stunde Körperpflege, acht Stunden Schlaf pro Nacht, zehn Tage Urlaub im Jahr. Das waren seine Auflagen. Und, sein wichtigstes Gesetz: keine Affären, keine Beziehungen.
Sie lebte in einem kleinen Appartement eines modernen Wohnhauses in Minato-Ku. Wie in Japan üblich zog er sich die Schuhe aus, bevor er die Wohnung betrat: Kochnische, Minibad mit Sitzwanne, Doppelbett, Röhrenfernseher und ein Kassettenrekorder. Nichts war bemerkenswert an ihrer Wohnung. Vielleicht nur der frische Wasserschaden an der Decke, vom dem alle paar Sekunden ein Tropfen in eine Aluminiumschale auf dem Fußboden fiel und dessen Klang sich in diesem Moment zauberhaft in die zarte Rhythmik der Songs von Veloso einfügte. Es war das einzige Tape, das sie besaß, eine Kasette Typ TDK-90 Minuten. Es sollte die nächsten Tage fast durchgehend laufen. Seinen Flug würde er noch an diesem Nachmittag telefonisch verschieben. Später würde er sein Reisevisum verlängern lassen. Am Tag seiner endgültigen Abreise sollte er noch immer einen blauen Fleck an seinem rechten Oberarm haben.

„Tea?“
„Yes, please.“
„Green or black?“
„Green, please.“
Er setzte sich aufs Bett, einen Stuhl gab es nicht. Er spürte, wie sie seine Bewegungen registrierte, ohne ihn anzuschauen. Vielleicht misstraute sie ihm, vielleicht fragte sie sich, ob es richtig war, einen unbekannten Mann mit nach Hause zu nehmen.
„Feel like at home,“ sagte sie ohne sich vom Herd umzublicken.
„But not too much.“ Sie lächelte. Er war überrascht und schwieg.
„What do you expect?“ fragte sie.
„You want an honest answer?“
„Sure.“
„I don’t expect anything. I just followed you. I don’t know why.“
Sie reichte ihm den Becher Tee und verschwand ins Badezimmer. Draußen hatte der Verkehr inzwischen die Stadt im Griff. Der Kassettenrekorder wendete per Autoreverse die Seite des Bandes. Er schaute auf die Hülle, es lief „Saudosismo“. Aus dem Fenster konnte er in eine Wohnung des gegenüberliegenden Hauses blicken. Drei Frauen und drei Männer saßen dort vor einem Fernseher und schauten einen Film mit Jean Gabin. Einer der Männer zog eine Linie Kokain. Eine Frau ließ einen Joint kreisen. Ein anderer Mann brachte in diesem Moment aus einem anderen Zimmer Bier. Die Wohnung war nur mager möbliert.
Er verspürte keine Müdigkeit, auch keine Vorfreude auf ein Abenteuer, das mit Ileania bevorstehen könnte. Ihm fiel auf, dass er ihren Körper nicht gemustert hatte, als sie den Tee eingeschenkt und ihm dabei den Rücken zugewandt hatte. Er liebte Frauen und es wäre ihm sonst nie eingefallen, die Konturen eines Frauenkörpers, den er attraktiv findet, nicht zu studieren. Ihr Körper allein aber hatte ihn nicht interessiert. Er mochte jetzt schon ihre gesamte Erscheinung.
„What’s your name?“ fragte sie, als sie aus dem Badezimmer zurückkam.
„Alessandro.“
„Alessandro, my name is Ilenia. You can take a shower if you want. Wash the night away.“
Sie hatte ein Badetuch um ihren Körper gewickelt, die nassen Haare fielen ihr auf die weiße Haut ihrer Schultern.
„Since one month the fellows over there meet every day to watch movies. There are always different people in the flat. What do they watch today?“
„Looks like an old movie with Jean Gabin.“
Alessandro verschwand im Bad, nahm eine Dusche, rasierte sich mit Ilenias Sprühschaum und Beinrasierer und kam wieder heraus. Sie saß auf dem Bett, rauchte eine Zigarette und reinigte mit einem Lackentferner ihre Fingernägel. Sie hatte ihm ein frisches, weißes T-Shirt bereitgelegt und eine dazu passende Unterhose. Er setzte sich und hatte das Gefühl, es sei der Moment gekommen, in dem man sich über die Dinge unterhalten könnte, die zwei Menschen reden, wenn sie sich kennenlernen, damit beide wissen, mit wem sie es bei dem anderen zu tun haben. In gewisser Weise empfand er es jetzt als die Verpflichtung eines Mannes, sich zu erkennen zu geben, um der Frau die Scheu vor einer Annährung zu nehmen. Doch mit einem kurzen, festen Blick untersagte sie ihm weiter zu reden. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn zart auf die Lippen. Sie schmeckte nach Zahnpasta und Rauch. Er berührte ihre Arme vorsichtig mit seinen Händen und ließ sich weiter küssen. Ihre Zigarette verglimmte im Aschenbecher. Veloso spielte seinen nächsten Song, „Get out of Town“.
Unter dem Eindruck der fragilen Stimme von Veloso und den zarten Küssen Ilenias, entwich der tosende Lärm des Verkehrs aus Alessandros Ohren und wurde zu einem Rauschen – er ähnelte dem Klang einer Meeresbrandung, einem in Abständen wiederkehrenden Tosen, das abflaute, um sich dann wieder zu erheben. Er schaute Ilenia in die Augen und sah einen großen Stolz darin, aber auch eine immense Sehnsucht, die sie sonst geschickt zu kaschieren verstand, aber sich in diesem Moment voll offenbarte. Aber da war noch eines, das er anfänglich nicht hätte in Wort fassen können und vor dem er schnell so etwas wie Furcht, zumindest aber Respekt spürte, wenn er in ihre Augen blickte: Er sah darin einen blanken Ozean mit einem weiten Horizont, in dessen Mitte es einen Punkt gab, auf den alles Wasser zuströmte wie in einen Tunnel. Er fühlte wie eine immense Kraft ihn in diese Tiefe hineinzog.

Die Tokioter Nächte in diesem August des Jahres 1992 waren fast unerträglich schwül. Ileania und Alessandro saßen in Handtücher gewickelt auf dem Bett. Er beobachtete wie sie zur Küchenzeile ging, einen Tee einschenkte und eine weitere Zigarette aus der Schachtel zog. Jeder ihrer Bewegungen war leicht, fast graziös. Er studierte ihren muskulöse Schulterpartie, ihren satten Po, den er unter dem Handtuch vermutete, die feinen Achillessehnen, bis hin zu dem Muttermal auf dem kleinen Zeh des linken Fußes. Sie setzte sich wieder zu ihm, rückte heran, ihre Knie berührten sich, er legte seinen Kopf an ihren Hals und atmete ihren Geruch ein. Sie roch nicht nach Parfum oder Seife. Sie roch nach sich selbst.
Es gab keine Scham zwischen ihnen, sie küssten sich, erst sehr vorsichtig, bis ihre Körper Vertrauen zueinander gefasst hatten. Dann verirrten sie sich tiefer und tiefer in ein stundenlanges, zärtliches Ringen, bis es mittags wurde und das Telefon klingelte. Ilenia griff über ihn hinweg und nahm den Hörer. Er hörte eine japanische Männerstimme. Sie antwortete ebenfalls auf japanisch und war beunruhigt. Das Gespräch dauerte nicht lang, vielleicht zwei Minuten, dann sagte sie:
„You have to go, meu amor.“
„Why?“
„My Boss is coming.“
Wie ein Zuhälter kontrollierte dieser schäbige Typ offenbar regelmäßig die jungen Frauen, die für seine Agentur arbeiteten. Alessandro stand langsam auf, zog sich an, steckte sich eine Zigarette an, dachte kurz nach, und griff dann zum Telefon. Er wählte die Nummer der internationalen Auskunft, die er auswendig kannte, und ließ sich mit Japan Airlines verbinden. Dann buchte er kurzerhand seinen Flug um, der ihn an diesem Nachmittag nach Deutschland bringen sollte.
Sie lächelte, küsste ihn auf die Stirn und schrieb ihm ihre Telefonummer auf seine Handfläche. Sie verabredeten sich für den Abend. Dann ging er aus dem Haus und verlor sich in den Straßen Tokios.

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