Melancholie in Zeiten der anbrechenden Globalisierung.
Erzählung über die Liebe. 10 Wochen, 10 Folgen.
Text und Fotos: Vito Avantario
Teil I
Hamburg, Januar 2016.
Ihr Gesicht war aus seiner Erinnerung verschwunden. Er entsann ihren sanften Blick, die Farbe ihrer Iris aber kannte er nicht mehr. Er erinnerte ihr Lachen, die Farbe ihrer Lippen hätte er aber nicht mehr nennen können. Er hatte die Form ihrer geschwungenen Nasenflügel, der zu großen Ohrläppchen, ihrer kindlichen Lücke zwischen den Schneidezähnen wie Fotostudien in einer eigens für sie eingerichteten Kammer seiner Gedankenwelt abgelegt. Messerscharf erinnerte er einzelne Partien ihres Gesichts, doch sie zu einem Ganzen zusammenzufügen, war er nicht in der Lage.
Er nahm eine Blechkiste aus dem Regal seiner Kammer. Darin lagerte er eine vertrocknete Rose, deren Schutzfolie den Aufkleber eines Geschäfts vom Flughafen in Sao Paolo trug. Einen Glücksbringer – ein Glockenspiel mit japanischen Schriftzeichen, die er nicht lesen konnte. Dazu 34 Briefe und Postkarten in brasilianischer Sprache und unzählige Fotos, die sie gemeinsam zeigten.
Ihr Gesicht nun wieder vor Augen, versuchte er sich ihre Stimme ins Bewusstsein zu holen, die er damals, wenn sie gemeinsame Pläne schmiedeten, auf die Echtheit des Klangs überprüfte. Doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht. Kein Laut, auch kein Geruch, kein Geschmack, kein Gefühl. Nichts war in seiner bewussten Erinnerung geblieben.
„happy birthday – ilenia@hotmail.com“. Mehr hatte sie in dem Telegramm nicht geschrieben, das nun auf dem Schreibtisch seines Büros vor ihm lag.
Scheibe um Scheibe glaubte er sie sich seit dem Tag ihrer letzten Begegnung vor zwanzig Jahren in Sao Paulo von der Seele geschält zu haben. Jetzt wusste er, er hatte sie samt aller Erinnerungen, die er mit ihr verband, offensichtlich bloß in sich versenkt. Begraben war die Angelegenheit offenbar nicht.
Binnen weniger Momente stieß seine Haut erneut diese Symptome aus, die er aus der Zeit nach ihrer Trennung kannte. Sein Kopf juckte, seine Finger schwollen, an seiner Hüfte sprossen Flechten. Er blickte noch einmal auf das Telegramm und Minute um Minute tauchte jetzt langsam Bild für Bild dieser vergangenen Liebe aus seiner Erinnerung an der Oberfläche auf (…).