Mit dem Niedergang des Kommunismus schien die politische Utopie am Ende. In Wirklichkeit haben visionäre Ideen gerade in Krisenzeiten Konjuktur. Ein Gespräch mit Utopieforscher Richard Saageüber über Hoffnungsvolles in Zeiten der Megakrisen. Erschienen im Greenpeace Magazin, 2013.
Utopieforscher Richard Saage:
Utopisches Denken mehr denn je gefragt.
Herr Saage, glaubt man den Prognosen von Klimaforschern und Kapitalismuskritikern, ist die Welt, wie wir sie kannten, im Begriff dabei sich radikal zu verändern. Positive politische Utopien, die Rettung versprechen, sind aber nicht in Sicht. Warum? Konjuktur haben Utopien meist in Krisenzeiten. Schauen Sie zurück in die 70er-Jahre: Damals nahm mit Dennis Meadows Studie Die Grenzen des Wachstums zum ersten Mal eine breite Öffentlichkeit die Ökologiekrise zur Kenntnis. Als größte politische Herausforderung galt es fortan, die Folgen dieser Krise zu bewältigen und einzudämmen. Heute stecken wir mitten in diesem Transformationsprozess.
Die Ökologiefrage ist von allen Gruppen unserer Gesellschaft als zentrales Problem des 21. Jahrhunderts erkannt worden, bis weit ins konservative Lager hinein. Weshalb ist es für eine Gesellschaft wichtig, seine Utopisten nicht als Spinner abzutun, sondern auf sie zu hören? Utopisten werden meist erst dann erhört, wenn der Leidensdruck einer Gesellschaft unerträglich hoch geworden ist und sie sich dringend erneuern muss. Dieses Leiden darf nicht nur die Befindlichkeit Einzelner betreffen, sondern muss ganze Schichten oder Klassen erfassen. Hier setzen Utopien an: Sie korrigieren Fehlentwicklungen und setzen dem alternative politische Modelle entgegen, die eine bessere Zukunft versprechen.
Aber sind politische Utopien nicht eigentlich der ärmliche Versuch, ein besseres Sein auf die Zukunft zu projezieren, um sich der Verantwortung in der Gegenwart zu entziehen? Nein. In der Geschichte hat die Utopie schon immer politische Verantwortung übernommen, indem sie nicht nur die Defizite der Gegenwart kritisierte. Allen bekannten utopischen Autoren von Thomas Morus im 16. Jahrhundert bis zu Ernest Callenbach Mitte der 1970er Jahre kam es immer darauf an, konstruktive Alternativen zu entwickeln, um nicht im leidvollen Status Quo zu verharren.
Utopien resultieren eher aus progressivem linken Denken, während sie konservativen Kreisen meist suspekt erscheinen. Konservatives Denken ist traditionell meist dem sozio-ökonomischen Status quo verpflichtet, während die politischen Utopien genau diesen verändern wollen. Zwar streben auch aufgeklärte Konservative Veränderungen an. Aber sie sind meist moderat und dienen dazu, den Status quo ante wiederherzustellen, dessen Verlust in jenen Kreisen oft als sicherheitsgefährdend und angstvoll erlebt wird.
Andererseits bergen linke politische Utopien die Gefahr, zum glücksverheißenden Diktat zu werden. Ja. Wenn die Utopie zur Ideologie wird, pervertiert sie zum Dogma. Das geschieht dann, wenn politische Kräfte vorgeben, ihre Utopie sei Eins-zu-Eins verwirklicht worden, wie etwa in der Sowjetunion: Die Implosion der UdSSR hatte eine Vielzahl außen- und innenpolitischer Ursachen. Eine davon war sicher, dass Stalin 1936 behauptete, die Utopie des Kommunismus sei zu diesem Zeitpunkt so gut wie vollendet gewesen. Ab diesem Moment gerann das utopische Denken der Sozialisten zu einer dogmatischen Ideologie, die alle sozialen und technische Erneuerungen verhinderte und so in eine destruktive Stagnation mündete.
Erstmals in der Geschichte der Menschheit werden die folgenden Generationenen wohl nicht den gleichen Wohlstand erleben können, wie jene, die heute leben. Was können Utopien dazu beitragen, diese Wohlstandsdifferenz so klein wie möglich zu halten? Ohne die radikale Neuausrichtung einer ökologisch orientierten Gesellschaft wird jede reformorientierte Realpolitik scheitern, weil sich ohne sie keine Mehrheiten für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft gewinnen lassen. Utopisches Denken wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mehr denn je gefragt sein: Utopische Fiktionen, die uns eine ökologisch und wirtschaftlich mit sich ins Reine gekommene Gesellschaft schildern, sind nicht unmodern, wie oft behauptet. Im Gegenteil: Sie sind dringend nötig, wenn wir weiter positiv in die Zukunft schauen wollen.
ZUR PERSON
Richard Saage, 72, ist Politologe und Historiker. Er gehört zu den renommiertesten Utopieforschern Deutschlands. Saage forscht und lebt in Berlin.