In Freiheit gefangen

In Weißrussland, der letzten Diktatur Europas, gibt es keine freie Presse. Deshalb beschloss Natalia Radina zu fliehen. Doch ihre Flucht hat sie in ein neues Dilemma gestürzt. Erschienen in der Jubiläumsausgabe des Greenpeace Magazin, 2013.

Natalia Radina in den Redaktionsräumen von Charta97 in Warschau
Natalia Radina bei unserem geheimen Treffen im Warschauer
Büro
der Exilredaktion von Charter 97. Foto: Elias Hassos,
http://www.eliashassos.de

Natalia Radina ist sonst keine Frau, die einmal getroffene Entscheidungen bereut. Doch als sie sich in der Nacht des 31. März 2011 auf dem einsamen Bahnsteig von Luninets wiederfindet, einem Städtchen im Süden Weißrusslands, fragt sie sich für einen Augenblick, ob sie doch besser alles rückgängig machen soll.

Einige Tage zuvor hatte sie ein Anruf aus der Geheimdienstzentrale in Minsk erreicht. Der weißrussische KGB ist aus dem gleichnamigen Vorläufer der Sowjetunion entstanden. Ein Beamter hat sie zum Verhör in die Hauptstadt bestellt, weil Natalia Radina einen Artikel veröffentlicht hatte, der Folter in weißrussischen Gefängnissen anprangerte. Nachdem sie aufgelegt hatte, begannen sich die seit langem lose herumschwirrenden Gedankenspiele im Kopf der Journalistin zu einem Fluchtplan zusammenzufügen.

Gemeinsam mit dem befreundeten Journalisten Aleg Bjabenin hat Natalia Radina 1998 Charta97 gegründet. Die Internetzeitung ist aus der Oppositionsbewegung heraus entstanden und einer der letzten freien Zugänge zu regierungsunabhängigen Informationen. Pro Monat hat charter97.org mehr als eine Million Zugriffe. Deshalb lebt Radina gefährlich: Ihr Partner Aleg Bjabenin ist 2010 mit Spuren von Schlägen am Körper erhängt in seinem Wochenendhaus aufgefunden worden. Während offizielle Stellen behaupten, Byabenin habe sich umgebracht, vermutet Radina, der KGB habe ihren unbequemen Freund vor den damals bevorstehenden Präsidentschaftswahlen aus dem Weg geräumt.

Am Tag nach dem Anruf steigt sie in den Nachtzug nach Minsk. Am kommenden Morgen soll sie in der KGB-Zentrale erscheinen. Radina kennt das Gebäude bereits. Anfang des Jahres hat sie dort für eineinhalb Monate eingesessen, weil sie ein Jahr zuvor den Aufruf des Oppositionellen Andrei Sannikov unterstützt hatte, gegen den Wahlbetrug von Präsident Lukaschenko zu protestieren. Radinas Zelle hatte die Form eines Sarges. Es gab darin kein Bett, keine Toilette. Eine Kamera an der Decke beobachtete sie rund um die Uhr. Vier-, fünfmal pro Tag wurde sie verhört, oft auch in der Nacht. Bei der Entlassung wurde ihr der Reisepass abgenommen, um sie an einer legalen Ausreise zu hindern.

Auf dem Bahnsteig von Luninets, an dem der Nachtzug wie immer für 20 Minuten Halt macht, könnte sie der inneren Schwäche, die sich nun in ihr meldete, nachgeben und in ihr Abteil zurückgehen können. Sie würde am nächsten Tag zum Verhör und danach zurück in ihr 300 Kilometer entfernte Heimatstädtchen Kobrin fahren. Dort würde sie sich wieder devot in den vom KGB angeordneten Hausarrest begeben und weiter schweigen, so wie es von einer mit einem Arbeitsverbot belegten Journalistin in Weißrussland verlangt wird. Die Eltern wissen nichts von dem Fluchtplan der Tochter. Nur eine handvoll Freunde sind eingeweiht.

Kulturpalast im Zentrum WarschausNatalia Radina im Hof ihres RedaktionsbürosIMG_1033
Alle Fotos: Vito Avantario ©

Radina schiebt jetzt die letzten Zweifel beiseite und schleicht durch die windige Nacht auf die Straße hinter dem Bahnhofsgebäude. Dort steigt sie in den Wagen eines Freundes, der sie an einen geheimen Ort bringt. In den nächsten Wochen streuen befreundete Journalisten solange die Falschinformation, Radina sei aus Belarus geflohen und halte sich bereits außer Landes auf, bis Lukaschenkos Schergen die Suche nach ihr aufgeben. Erst vier Monate später überquert Radina die Grenze nach Russland und flüchtet nach Moskau. Dort erhält sie vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen Papiere, die sie als politischen Flüchtling ausweisen und die Einreise nach Letttland ermöglichen. Dann geht es über Amsterdam weiter nach Warschau, wo sie heute politisches Asyl genießt.

Ein Jahr später sitzt Natalia Radina in einer Altbauwohnung im Zentrum der polnischen Hauptstadt. Sie erzählt ihre Geschichte in einem der Büroräume von Charta97. Der Name der Oppositionszeitung ist der tschechoslowakischen „Charta 77” entlehnt, einer Erklärung gegen die Menschenrechtsverletzungen im ehemals kommunistischen Regime. Mit einem vergleichbaren Manifest hatte sich die weißrussische Opposition 1997 für Demokratie in Belarus eingesetzt. Radina hat jetzt die starre Miene eines Menschen aufgesetzt, der keine Emotionen zu erkennen geben möchte. Ihr Gesicht ist regungslos wie die harte Wand hinter ihr. Dort haben ihre Kollegen die verbotene rot-weiße Fahne der Republik Belarus zwischen die polnische Flagge und das Sternenbanner der EU gehängt. Die alte Republik existierte in den Jahren von 1991 und 1995. Danach wurde aus ihrem Land ein großes Gefängnis, sagt Radina. „Wenn aus deinem Umfeld ein Freund nach dem anderen in diesem Gefängnis verschwindet oder ermordet wird, dann begreifst du irgendwann: das ist kein Zufall. Du könntest die nächste sein.”

In Warschau fühlt sie sich frei. Nur wenn es am Abend dunkel wird, wie jetzt, steigt in ihr jedesmal dieses Unbehagen auf. Sie wird gleich durch den Nieselregen nach Hause gehen. Vielleicht wird sie später mit ihren Eltern ein Skype-Telefonat führen. Das könne vom KGB nicht abgehört werden, sagt Natalia Radina. Zwei ihrer männlichen Arbeitskollegen werden sie wie immer nach Hause begleiten. Ihr Wohnort ist nur ihren besten Freunden bekannt. Ob der Arm von Lukaschenkos Geheimpolizei bis nach Warschau reiche, kann sie nicht sagen. Man wisse nie.

ZUR PERSON
Natalia Radina, 33, ist die bekannteste weißrussische Journalistin. Sie ist Chefredakteurin von Charta 97. Seit ihrer Flucht 2011 lebt sie in Warschau. http://www.charter97.org