Nirgendwo ist die Hamburger Arbeiterschicht in den letzten drei Jahrzehnten so stark durch Anarchisten, Kulturlinke, Bohemians und Geldsäcke vertrieben worden wie aus dem Schanzenviertel. Auf Spurensuche nach einer ausgestorbenen Spezies. Erschienen in Szene Hamburg, 2005.
Fotos aus „Schanze, 1980“ ,
von Thomas Hennings ,
(Junius Verlag)
Es sei das Ende, sagt Oskar Mathiessen. Fast ein Jahrhundert lang war das Schanzenviertel Heimat der Heizer, Brenner, Kesselklopfer, Packer, Stauer, Schleifer, Schweißer und jener, die im Hafen, Schlachthof oder bei Montblanc gearbeitet haben. Vor der Schicht oder nach getaner Arbeit trafen sie sich damals in ihren Kneipen. Sie waren Bar, Seelsorge, Wohnzimmer und politische Bühne zugleich, erinnert sich Mathiessen. Eine nach der anderen gehen die Arbeiterkneipen bald zugrunde. Die Mieten sind zu hoch, die Umsätze zu niedrig. Die Kundschaft gibt es ohnehin kaum mehr im Viertel die Arbeiter ziehen weg in Wohnsilos nach Osdorfer Born oder Mümmelmannsberg, versterben oder verschwinden in Seniorenheimen.
„Alle nennen mich Oschi, sagt Mathiessen, während er sich eine weitere Zigarette Marke Bantam dreht und zwischen seine schmalen Lippen steckt. So wie unter uns Arbeitern jemand, der Rolf nur Rolle und jeder, der Karl-Heinz heißt, nur Kalle genannt wird. Oschi von Oskar also.
Mathiessen hat einen kräftigen Händedruck. Seine Augen sind wach wie die eines Neunzehnjährigen. Seine Gesichtshaut aber ist grau. Seine Schultern sind gebeugt. Er ist 78 Jahre alt und Rentner. Er war einmal Hufschmied, Kesselwärter, Seemann und Hafenarbeiter, Schrottverwerter in Kattwick, ein Malocher, ein Schinder, einer, der sich für andere krummgemacht hat, bis sein Magen und seine Lungen porös wurden. Er hustet ständig. Auf dem Kopf trägt er einen Elbsegler, in dessen Mitte einen Button mit dem Konterfei von Che Guevara. Ein blauer Troja wärmt seinen Oberkörper, darüber trägt er eine schwarze Lederweste. Auf Höhe des Herzens haftet ein Sticker der DKP. Mathiessen war es immer und ist es bis heute, ein Kommunist, auch wenn alte Weggefährten, die nach dem Ende des Sozialismus umgeschwenkt sind und seitdem die Marktwirtschaft für eine religiöse Heilsbewegung halten, ihn spöttisch einen Nachlassverwalter und politischen Bankrotteur schimpfen.
Mathiessen war lange Zeit Vorstandsmitglied der DKP Hamburg, Sektion Eimsbüttel. Er sei kein Sentimentalist, da legt er Wert drauf. Früher war hier nichts besser, sagt er. Die Löhne waren mies. Die Wohnungen des Viertels feuchte Höhlen: auf 50 Quadratmeter hausten Arbeiterfamilien zu acht oder zu zehnt wie die Kanalratten. Vor 150 Jahren war die Sternschanze ein Sumpfgebiet. Dann wurde es bebaut. Die Feuchtigkeit zog später in die Wohnungen hoch. An regnerischen Tagen kehrt noch heute der modrige Geruch von feuchten Wänden in seine Nase zurück, automatisch, wie ein pawlowscher Reflex. Immerhin aber hätten die Arbeiter damals Begegnungsstätten im Viertel gehabt, ihre Kneipen.
Deren Lichter gehen aus. Das Plewinski am Neuen Pferdemarkt hat vor Jahren geschlossen, auch der Goldene Anker in der Thadenstraße. Das Schock in der Kampstraße öffnet mal seine Tore und mal nicht; auf diese Kneipe können sich Stammgäste nicht mehr verlassen. Eine der wenigen noch frequentierten Orte war lange die Köpi-Stube bei Toni im Schulterblatt. Diese Kneipe existiert unter wechselnden Namen und Besitzern seitdem das Gebäude steht, seit 120 Jahren. Hier treffe ich einen Mann ohne Namen.
Hat niemanden etwas anzugehen wie ich heiße, wo ich stecke, was ich treibe, sagt er. Seine Zigarette verglimmt. Der Kümmerling ist ausgetrunken. Die meisten Gäste sind gegangen. Am Tresen harrt er der Dinge, als warte er auf bessere Zeiten. Das einzige, was ihm noch kümmerliche Glücksmomente beschert, ist seine tägliche Alkoholration und die Schachtel Lord Extra, die er Tag für Tag im Tabakladen nebenan kauft, um sie dann Zigarette für Zigarette in die verklebten Lungen zu inhalieren, während er Morgen für Morgen hinter dem Schaufenster seiner Stammkneipe sitzt und das Treiben auf dem Schulterblatt verfolgt.
In den Köpi-Stuben ist die Einrichtung wie aus Holz gegossen: Holztresen. Holztische. Holzstühle. Holzwände. Die Musik kommt aus der Box. Kein Klischee, sondern Realität: gerade läuft Peter Alexanders Die kleine Kneipe. Die Männer hier Arbeiter, Arbeitslose und Rentner halten mal ein Schwätzchen, mal Schweigen sie und lesen Zeitung, BILD oder Morgenpost. Politik gehört nicht in die Kneipe, erfahre ich. Das gebe nur Streit. Auf eines haben sich die meisten von ihnen immerhin geeinigt, auf den Alkohol. Jeder gibt jedem mal einen aus. Auch am Morgen, warum nicht. Wer konsumiert, ist ein gerngesehener Gast. 0,3 Liter Bier kosten 1 Mark 60. Ein Kümmerling 1 Mark 10. Trinken hat in Arbeiterkneipen auch etwas mit Ansehen zu tun: wer trinkt sichert die Existenz des Gastwirts und seiner Stammkneipe.
Ziza, die bosnische Wirtin, schenkt unserem Mann noch einen ein. Das Gespräch kommt in Gang. Früher war das Schulterblatt eine Prachtmeile, erinnert er sich. Vorbei an den zahllosen Geschäften, Kneipen und Konditoreien flanierten an sonnigen Tagen die Arbeiterladies eingehakt in den Armen ihrer stolzen Arbeitermänner. Ehrenmänner, findet er. Arbeiter zu sein hieß nicht bloß irgendeiner Maloche nachzugehen. Arbeiter sein war eine Haltung, sagt er.
An der Wand hängt ein Poster einer vergangenen Mannschaft des FC St. Pauli. Eine Jahreszahl steht dort nicht. In der zweiten Reihe posiert ein dunkelhäutiger Spieler mit verschränkten Armen. Es ist Guy Acolatsè, der erste schwarze Profi in Deutschland. Es ist wahrscheinlich das Team von 1967.
Das war ein Guter, sagt der Mann und klemmt sich eine weitere Lord Extra in seine halbe Zahnreihe. Nur soviel will er von sich preisgeben, er wurde 1934 in der Bartelstraße geboren und sei, wie die meisten damals im Viertel, ein Arbeiter gewesen, einer der sich für die Ausbeuterfimen im Hafen krumm gemacht habe. Zwei Operationen hat er hinter sich. Asbestose. Lungenembolie. Die Berufsgenossenschaft erkennt seinen Schaden nicht als Berufskrankheit an. Geld für einen Anwalt hat er nicht, was ihm auch nichts ausmache. Rechtsverdrehern traue er ohnehin nicht über den Weg. Das schlimmste sei sowieso etwas anderes: nämlich das die Schanze seine Heimat nicht mehr ist: Meinesgleichen hat hier nichts mehr zu sagen, sagt er.
Fotos aus „Schanze, 1980“ ,
von Thomas Hennings ,
(Junius Verlag)
Seinesgleichen sind die Arbeiter, die bis in die späten 70er Jahre das Viertel ausgemacht haben. Deutsche Arbeiter, sagt er. Das ist ihm wichtig, das Deutsche. In jedem zweiten Satz kommt er darauf zurück, wenn er von Zeiten berichtet, von denen er glaubt, sie seien besser gewesen als die jetzigen: im Viertel gab es deutsche Kneipen, deutsches Bier, deutsche Speisen, deutsche Musik, deutsche Sprache, deutsche Deutsche.
Das Deutsche bedeutet für ihn: Behaglichkeit, Vertrautheit, Sicherheit. Das Neue ist ihm fremd. Das Fremde macht ihm Angst. Dann kamen die Ausländer, später die Körnerfresser, am Ende die Krawallbrüder. Heute ist die Sternschanze in der Hand von Türken, Kurden, Pakistanis und Demonstrationstouristen, die aus der Flora. Sie alle hätten dazu beigetragen, daß seine Schanze am Abgrund stehe. Was er sieht, wenn er in den Abgrund schaut? Dunkelheit.
Dort wo es dunkel ist, sehnt sich der Mensch nach Sicherheit. Erhellende Hoffnung in einer unsicheren Welt, gibt, wer Dinge vereinfacht, die dem unsicheren Menschen unübersichtlich erscheinen. Wer die Tricks und Finten der Vereinfachung beherrscht, kann in den noch übrig gebliebenen Arbeiterenkneipen der Schanze und St. Pauli sein Gebräu ausschenken. Verführer wie der Rechtspopulist Ronald Schill zum Beispiel: Wir ziehen in das Plewinski am Neuen Pferdemarkt, am Ende mit I geschrieben. Die Kneipe trägt den Namen ihres Inhabers, Franco Plewnsiky, am Ende mit Y. Ein Fehler des Schildermachers, sagt er. Schills Partei konnte bei den letzten Bürgerschaftswahlen im Schanzenviertel und St. Pauli nur unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielen. Hochburgen der populistischen Partei waren die Wirtschaft Erikas Eck in der Sternstraße.
Kneipier Peter Müller ist heute Koordinator für die deutschlandweite Expansion der Partei und Vizepräsident der Bürgerschaft. Die andere war das Plewniski.
Franco Plewninsky war einmal SPD-Anhänger, dann bei den Republikanern. Für einen Faschisten hält er sich nicht, nur weil er Dinge ausspricht, die viele Stammgäste seiner Kneipe denken. Als die Hells Angels in St. Pauli residiert haben, war Ruhe im Viertel, sagt er. Da habe keiner seiner Gäste um Leib und Leben gefürchtet. Der Einzug von Ausländern, Yuppies und subkulturellen Linken ins Viertel hält er für die Wurzel des Übels. Sie hätten die deutsche Kneipenkultur verdrängt, viele seiner Gäste wüßten nicht mehr wohin.
Ausländer, Yuppies, Subkultur diese Wörter klingen aus seinem Mund als seien sie Krankheiten. Neulich erst ist ein Stammgast angesteckt worden. Eine 70jährige mit dem Namen Hilde, sei von zwei jungen Burschen überfallen worden, „Türken oder so, erzählt Plewinsky. Seitdem traue sie sich nicht mehr aus dem Haus. Noch eine, die seine Kneipe nicht mehr besucht. Die verbliebenen Stammgäste sind Arbeiter, Arbeitslose und Rentner. Einige von ihnen sind Alkoholiker, kaputtgetrunkene Typen, die vom Leben nichts mehr erwarten, von der Politik sowieso nicht. Immerhin aber kam bei der letzten Bürgerschaftswahl selbst in dieser trüben Kneipe Stimmung auf. Von 22 Stammgästen hätten 21 Schill gewählt, nur einer offenbar ein Überzeugungstäter die SPD, sagt Plewinsky. Der aber lebe ohnehin in der Vergangenheit.
In der Vergangenheit hätte sich der Traditionswähler vielleicht als Teil einer Bewegung empfunden. Den heutigen Bezirk Altona St. Pauli und die Sternschanze eingeschlossen nannte man in den 20er Jahren das Rote Viertel. Hier hatten vor der Machtergreifung Hitlers die Arbeiterparteien SPD und KPD besonders viele Anhänger. Bis zu ihrem Verbot 1933 vereinten die beiden verfeindeten Parteien in den hiesigen Arbeiterquartieren noch immer die Mehrheit der Stimmen auf sich.
Wie eine Perlenkette reihten sich bis dahin die Arbeiterkneipen in St. Pauli und der Sternschanze aneinander, die meisten davon besucht von SPD- und KPD-Anhängern, sagt Oschi Mathiessen. Er zieht an seiner Zigarette und pustet den Rauch über seinen Kopf an die Decke des Partei-Clubraums in der Lindenallee. An der Seitenwand prangt ein stolzes Ölgemälde, sieben Meter lang. Es erzählt die Geschichte der deutschen Kommunisten, von der Gründung der KPD 1919, zu der der DKP 1968, bishin zum Aufgehen der kommunistischen Partei in der Friedensbewegung der 80er Jahre. Hier hört die Geschichte auf. Mathiessens Rauchschwade legt sich wie ein graues Laken über das Gemälde.
Er ist Baujahr 1935 und alles, was er gerade erzählt, hat er nicht selbst erlebt. Sein Vater, Mitbegründer der KPD Hamburg, hat ihm später von dem Treiben in den linken Kneipen vor der Machtergreifung der Nazis berichtet. Dort wurde gegen die Rechten agitiert, Streiks organisiert, oder einfach nur Skat gekloppt, getanzt, gesungen oder gesoffen, sagt Mathiessen. Je nachdem was das elende Leben als Arbeiter gerade als Gegenserum erfoderte, um es erträglicher zu machen. Die heutige Zwitscher Diele in der Vereinsstraße etwa, weiß er, war ein Treff der Kommunisten. Bei der Schilleroper hatte die Rote Marine ihren Stützpunkt, ein aus ehemaligen Marinesoldaten bestehender Kampfverbund, der noch während des Nationalsozialismus illegal unter Waffen stand. Im Laufe der Jahre infiltrierten die Nazis die Arbeiterquartiere. Eines ihrer Parteilokale etwa gründeten sie am Neuen Pferdemarkt im Hotel Adler, der späteren Hippiekneipe Zartbitter. Heute ist dort das Hatari.
Vor allem die Sonntage galten in den Jahren bis 1933 als besonders bleihaltig.
Es ist der 7. Juli 1932: Nachdem sie sich einem Demonstrationsverbot widersetzt hatten, fegten 7000 SA-Männer durch das Rote Viertel. Die überforderte Polizei schoß in die Menge. Am Ende zählten die Linken 18 Leichen in ihren Reihen. Insgesamt waren 285 Verletzte zu beklagen. In die Geschichte ging der Tag ein als der Altonaer Blutsonntag. Im gesamten Juli danach starben allein 86 Männer bei anderen Zwischenfällen. Es waren vor allem die arbeitsfreien Tage in der Phase des Reichstagwahlkampfs, an denen die Männer des Roten Frontkämpferbunds und der SA sich in ihren jeweiligen Stammlokalen trafen, sich heißredeten, um dann verfeindete Kneipen zu überfallen. Mathiessens Vater war Mitglied bei der Roten Marine und beim RFB. Von ihm weiß Oskar, es gab also miesere Zeiten im Leben eines Arbeiters im Schanzenviertel als heute.
Über seinem Kopf an der Stirnseite des Clubraums hängen Fotografien von Marx, Engels und Lenin. Männer von gestern. Der vierte, der da hängt, ist der Venezuelaner Chavez. Teile seines Volkes aus Bauern und Arbeitern wollen ihn loswerden, weil sie ihn für einen Profiteur halten, während viele von ihnen im Elend leben. Im Schanzenviertel lebt kaum einer der noch verbliebenen Arbeiter heute wirklich im Elend. Dafür aber sei Stimmung unter ihnen elendig, sagt Mathiessen.
Wie gesagt, es ist das Ende des Dialogs unter ihnen. Unter den verbliebenen Malochern im ehemaligen Arbeiterviertel hat das Schweigen eingesetzt. Es ist das Schweigen derjenigen, die sich ihrem Untergang hingeben.
Fotos aus „Schanze, 1980“ ,
von Thomas Hennings ,
(Junius Verlag)
ZUM BUCH
Inspiriert von den Protagonisten der amerikanischen New Color Photography der 1970er Jahre wie William Eggleston, Joel Meyerowitz, Joel Sternfeld und Stephen Shore porträtierte der Fotograf und Grafiker Thomas Henning von 1978 bis 1985 Straßen, Gebäude und die Bewohner des Schanzenviertels, die bereitwillig vor seiner Kamera posierten. Die Bilder in diesem Buch sind ein farbiges Zeitdokument, ein Beispiel der sozialdokumentarischen Fotografie und dabei kunstvoll ohne jede kunstfotografische Prätention. Um 1980 war das Viertel um das Schulterblatt und vor der Sternschanze eine unwirtliche Nachbarschaft. Draußen zu sitzen war wegen der Geruchsbelästigung durch das Gewürzwerk Hermann Laue und den Schlachthof sowie der fehlenden Sitzgelegenheiten nicht üblich. Es gab auch nicht viel zu gucken, denn noch hatte die kreative Szene die Schanze nicht erobert. Tagsüber bevölkerten einkaufende Frauen und alte Menschen die Straßen. Auf planierten Trümmergrundstücken spielten Kinder vieler Hautfarben. Junius Verlag, 96 Seiten, 65 Abb. in Farbe, gebunden, 19,90 Euro, ISBN 978-3-88506-482-4.