DAS LEBEN DANACH

Das Tohoku-Erdbeben am 11. März 2011 in Japan, ereignete sich 130 Kilometer östlich der Hafenstadt Sendai und 370 Kilometer nördlich von Tokio mit der Magnitude 9,0. Es war das stärkste jemals in Japan registrierte Erdbeben. Es löste einen zerstörerischen Tsunami aus: Die Welle verwüstete die Nordostküste der Hauptinsel Honshu; in manchen Buchten schaukelte sie sich bis zu 40 Meter Höhe auf. Orte, Straßen und Bahngleise wurden weggespült, hunderttausende Häuser wurden zerstört. Trotz vielfach hoher Schutzwälle und eines gut funktionierenden Frühwarnsystems starben etwa 16.000 Menschen. In Folge des Tsunami havarierten mehrere Blöcke des Atomkraftwerks Fukushima 1. Einige Gebiete im Umkreis von vielen Kilometern um das Kraftwerk werden lange Zeit nicht mehr bewohnbar sein. Ohne Berücksichtigung der Folgen des Atomunglücks belaufen sich die wirtschaftlichen Schäden durch Beben und Tsunami auf 210 Milliarden US-Dollar. Das Tohoku-Beben ist nach Berechnungen der Münchner Rück die teuerste Naturkatastrophe aller Zeiten.
Ein Jahr nach der Jahrhundertkatastrophe hat sich in weiten Teilen Japans das Leben nur scheinbar normalisiert. Während im Norden des Landes, das die größten Schäden zu verzeichnen hatte, die Menschen darum kämpfen, zurück ins Leben zu finden, steigt der Unmut vieler Japaner über die Energiepolitik der Regierung. Die jahrelangen Versuche der Atomlobby, Atomkraft als günstige und saubere Alternative zu fossilen Brennstoffen zu bewerben, erweist sich für sie nach dem Atomunfall von Fukushima als haltlos. Die japanische Regierung muss zudem zum ersten Mal seit über dreißig Jahren ein Handelsdefizit bekanntgeben. Schuld daran seien unter anderem die hohen Importkosten für Strom. Zuletzt schätzte ein japanisches Expertenteam die Höhe der Entschädigungszahlungen an die Opfer während der nächsten zwei Jahre auf über 44 Milliarden Euro. Das deutschen Max-Planck-Instituts schätzt die Folgekosten der Atomkatastrophe an Tepco auf bis zu 90 Milliarden Euro – nicht enthalten sind darin die enormen Kosten für die Entkontaminierung der Umwelt. Die Säuberungsaktivitäten könnten für die Region eine zweite Naturkatastrophe bedeuten. Große Mengen an Erdreich, Pflanzen und Bäumen müssten abgetragen, Gebäude und Straßen müssen dekontaminiert werden. Nicht geklärt dürfte nach wie vor auch die Endlagerung des verseuchten Erdreiches sein, das abgetragen werden muss. Die Kosten für die Entgiftung der Umwelt werden laut „Guardian” mindestens weitere zehn Milliarden Euro betragen.
Derzeit laufen nur drei von insgesamt 54 Atomreaktoren in Japan. Die meisten der vom Netz genommenen Kraftwerke sind in die turnusmäßige Wartung genommen worden. Alle Kommunen und Bewohner Japans sind angehalten Strom zu sparen. Die überelektrifizierte Haupstadt Tokio ist dunkler. Viele der Straßenlatrenen oder Neonröhren in öffentlichen Gebäuden sind ausgeschaltet. Erst im Sommer, wenn die Temperaturen wieder auf 35 Grad Celsius steigen und die Klimaanlagen auf vollen Touren laufen, wird der Anteil der Atomenergie auf 30 Prozent steigen. Spätestens dann werden wohl die zur Zeit abgeschalteten Atomkraftwerke wieder an Netz gehen, sagt Iida Tetsunari vom Institute for Sustainable Energy Policies (IESP) in Tokio. Er ist einer der Menschen die ich in Japan getroffen und danach gefragt habe, was sich ein Jahr nach Fuksuhima im Land verändert hat. Eine Bestandsaufnahme. Erschienen im Greenpeace Magazin, 2012.

Texte: Vito Avantario, Fotos: Enno Kapitza (https://ennokapitza.de)

Iida Tetsunari, 53, Nuklearwissenschaftler und Experte für erneuerbare Energien, leitet das Institute for Sustainable Energy Policies (IESP) in Tokio.

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„Zehn Unternehmen dominieren den japanischen Energiemarkt. Sie sind daran interessiert, nicht nur bestehende Atomkraftwerke weiter zu betreiben. Sie wollen auch weitere bauen. Ein Erneuerbare-Energie-Gesetz wie in Deutschland, das die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Quellen ins Netz bevorzugt, gibt es hier nicht. Atomenergie gilt als klimafreundlich. Hinzu kommt, dass Japan ein altes Fischereirecht hat und eine starke Lobby, die Off-Shore-Windparks verhindern will, weil sie die Arbeit der Fischer erschweren und ihre Gewinne schmälern würde. Viele Wirtschaftverbände beharren auf der Position, Atomkraft sei der Motor für den Erfolg einer Industrienation wie Japan. Unterstützung bekommen sie von den Großbanken. Sie drohen damit, Unternehmen Kredite zu verweigern, wenn die Politik den Ausstieg aus der Atomkraft beschließt. Die Geldhäuser fürchten das Risiko, ihr Geld in Unternehmen zu versenken, die global nicht mehr wettbewerbsfähig sind – Japan ist vom Atomausstieg weit entfernt.”

Hajime Matsumoto, 38, Eigentümer eines Secondhand-Ladens in Tokio. Er kauft, verkauft und tauscht gebrauchte Mixer, Bügeleisen, Gitarren, Radios und Bücher. In seinem Geschäft wurden die letztjährigen Großdemonstrationen gegen Atomkraft organisiert.

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„Mein Laden gehört einer Reihe von Geschäften im Keonji-Viertel an, deren Besitzer sich einer Bewegung angeschlossen haben, die wir „Shiroto No Ran” nennen: die Revolte der Amateure. Nachdem der Atommeiler in Fukushima explodierte, begannen wir in meinem Laden die erste große Demonstration zu organisieren. Wir malten Plakate, verteilten Flyer und luden Menschen über Twitter und Facebook ein. 20.000 Menschen kamen am 11. April zu unserer „Sound-Demo”. Diese Art von Kundgebung wurden erstmals im Jahr 2003 auf dem Shibuya-Platz in Tokio abgehalten. Musiker, DJs und Aktionskünstler demonstrierten damals mit Musik-, Theater- und Kunstperformances gegen den Irak-Krieg von George Bush. „Sound-Demos” haben das Ziel, Aufmerksamkeit zu erzeugen und politischen Protest für Menschen attraktiv zu machen, die sonst Demonstrationen meiden.
Die letzte von uns im letzten Jahr organsierte Großdemo hat am 11. September 2011 stattgefunden. Damals wurden zwölf Personen verhaftet: Wenn die Polizei festlegt, dass eine Kundgebung in vier Reihen verlaufen soll und daraus unkontrolliert eine fünfte entsteht, kann es zu Festnahmen kommen. Sechs Demonstranten wurden deshalb im September für drei Wochen eingesperrt. Danach haben wir beschlossen, keine Großdemos mehr zu organisieren, sondern kleine Protestgruppen in den Stadtvierteln Tokios zu unterstützen.

Eisuke Tachikawa, 31, Gründer der Webpage „O Live”, die Opfern der Erdbeben- und Atomkatastrophe Infos und Ratschläge gibt.

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„Auf japanische Medien war nach der Katastrophe kein Verlass. Um zu erfahren was die Menschen benötigen, holten wir Infos von internationalen Medien, NGOs und Hilfsorganisationen ein. 40 Stunden nach dem Beben hatten wir unsere Page fertig. Weil das Telefonnetz aber zusammengebrochen war und es kein Internet gab, ließen wir unsere Infos erst nur ausdrucken und per Hand verteilen. Wo sind die Evakuierungszentren? Ab welcher Dosis ist radioaktive Strahlung gefährlich? Wie dekontaminiert man Kleidung? Bis Ende März hatten wir eine Million Klicks auf unserer Seite. Noch heute wird sie sehr häufig angeklickt.”

Maja, 12, geht in die 6. Klasse. Mutter Kaori, 45, ist Hausfrau. Vater Shin, 52, arbeitet als Architekt – die Familie Tanoue lebt in Arawaba-Ku, einem von 23 Stadtbezirken Tokios.
Maja: „Viele meiner Mitschüler wussten erst nicht, wie gefährlich radioaktive Strahlung ist. Im Unterricht haben wir die Reaktorkatastrophe kaum behandelt, nur zwei Stunden lang im Fach Sozialkunde. Das ist ein Jahr her. Erst als Männer in Overalls in unserer Schule auftauchten, Messungen durchführten und sich herumsprach, dass sie an einer Regenrinne erhöhte Strahlung festgestellt hatten, ahnten wir die Gefahr – radioaktiver Fallout aus Fukushima hatte unsere Schule in Tokio erreicht.”
Kaori: „Über die Gefahren radioaktiver Strahlung für Kinder hat uns niemand in der Schule aufgeklärt. Als Hausfrau koche ich drei Mal am Tag. Wenn ich einkaufe, ertappe ich mich dabei, wie ich mich insgeheim auf die Lebensmittelkontrollen der Regierung verlasse, obwohl ich ihr nicht traue. Doch selbst wenn ein weiteres Beben die Reaktoranlage Daiichi komplett zerstören sollte, wäre es undenkbar für mich, aus Japan, Tokio oder unserem Viertel wegzuziehen.”
Shin: „Mehr als die Atomkatastrophe haben mich die Reaktionen vieler Politiker schockiert. Sie haben ihr Volk im Unklaren über die Gefahren durch die Atomkraft gelassen. Diese Leute würden offenbar unsere Kinder opfern, wenn sie dadurch ihren eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen könnten. Mein Vertrauen in dieses Land ist erschüttert. Bie heute verfolgen mich Alpträume, in denen Erdbeben apokalyptischen Ausmaßes das Leben meiner Familie zerstören.”

Hidekazu Yoshida, 98, Kulturkritiker, ist in Japan eine „Person mit besonderen kulturellen Verdiensten”.

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„Ich bin ein alter Mann und nehme nicht mehr am gesellschaftlichen Leben in Japan teil, sondern befinde mich bereits im Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Vielleicht meinen manche in Japan deshalb, mir stünde es nicht zu, die Reaktorkatastrophe von Fuksuhima zu beurteilen. Doch leider kann ich nicht anders: Japaner haben in den letzten hundert Jahren kolossale Dummheiten angerichtet. Wir zogen 1937 in den Krieg gegen China, was von einigen Historikern als der eigentliche Beginn des Zweiten Weltkrieges angesehen wird. Und: Wir bauten unzählige Atomkraftwerke in unser Land, von denen wir behaupteten, sie seien sicher. Doch der Supergau von Fukushima hat gezeigt, Atomkraftwerke machen das Leben nicht sicherer. Sie machen es fragiler. Ich verspüre keine besondere Lust mehr, weiter zu leben.

Yoshihiko Ikegami, 56, ist Herausgeber der philosophischen Zeitschrift „Gendai Shiso”. Chigaya Kinoshita, 41, ist Politikwissenschaftler. Sie gehören der Anti-AKW-Bewegung Japans an und protestieren in Zelten im Regierungsviertel Tokios.

Ikegami: „Die Behörde für Rohstoffe und Energie ist in Japan für die Atomaufsicht verantwortlich. Sie ist dem Wirtschaftsministerium zugeordnet. Aus Protest über ihre unverantwortliche Informationspolitik haben wir vor dem Ministerium ein Zeltlager errichtet. Diesen Platz besetzen wir schon seit drei Monaten. Die Polizei droht, unsere Zelte zu räumen, aber noch lässt man uns gewähren – vielleicht deshalb, weil auch Mitarbeiter der Regierungsbehörden sich bei uns informieren. Wir beziehen täglich Infos und Strahlungswerte aus dem Internet. Greenpeace ist eine dieser Quellen.

Kinoshita: Wir misstrauen allem, was die Regierung an Informationen zur Reaktorkatastrophe herausgibt. Die offiziellen Stellen spielen die Strahlungsgefahr für die Bevölkerung herunter. In den meisten Großstädten Japans hat sich zwar der Alltag scheinbar normalisiert. Viele Menschen gehen abends nach der Arbeit unbedacht in Sushibars. Ich dagegen esse in Restaurants keinen Fisch mehr, weil ich nicht überprüfen kann woher er kommt. Meeresfrüchte kaufe ich nur noch, wenn sie aus dem Ausland kommen. Es ist aber fast unmöglich, sich in Japan ganz ohne Fisch und Meeresfrüchte zu ernähren.”

Kenichi Mishima, 69, Professor der Sozialphilosophie und Übersetzer von Adorno und Habermas ins Japanische. Er ist der wichtigste Vermittler der Kritischen Theorie in Ostasien. Mishima hat in Deutschland studiert. Er ist Eherendoktor der Freien Universität Berlin und lehrt an der Universität Tokio.

„Nur eine Woche nach dem Atomunfall von Fukushima hatten die Supermärkte ihre Produktpalette umgestellt: Gemüse, Obst, Fisch kam plötzlich aus dem Süden Japans. Nahrunsgmittel aus Fuksuhima waren aus den Regalen verschwunden. Beim Einkaufen vertraue ich auf die Angaben der Geschäfte. Warum? Weil der Kapitalismus unerbittlich ist: Kein Geschäft kann sich nach dem Supergau leisten, zu lügen. Käme dies heraus, wäre aus mit dem Supermarkt. Die Verlogenheit der japanischen Politik hat bisher verhindert, dass ein neues Energiekonzept auf den Weg gebracht wird. Anders als in Deutschland, das panisch – als läge Fukushima im Ruhrgebiet – den Ausstieg vollzogen hat, wird es in Japan noch Jahre dauern bis es soweit ist. Ich habe mir derweil ein Smartphone zugelegt. Mein altes Handy konnte die Erdbebenwarnungen der zuständigen Behörden nicht empfangen. 30 Sekunden vor einem Erdbeben, warnt mich nun eine App, damit ich mich in Sicherheit bringen kann.”

Erika, 39, und Kosmas Kapitza, 45, Musikerehepaar aus Tokio, seit elf Jahren verheiratet. Als der Reaktor in Daiichi havarierte, waren sie zu Besuch bei Erikas Eltern in der Präfektur Okinawa, einer Inselgruppe 500 Kilometer südlich von der japanischen Hauptinsel Honshu.
Erika: „Als ich von dem Unfall hörte, war mein erster Gedanke: Wir werden nie mehr nach Tokio zurückkehren können. Durch den Stress, den diese Vorstellung in mir auslöste, verbrachte ich viele schlaflose Nächte. Drei Wochen nach dem Unglück wagten wir uns dann endlich nach Tokio zurück. Immer wenn heute die Erde bebt, was sie in Japan ständig tut, steigt in mir reflexhaft die Furcht vor einer erneuten Atomkatastrophe auf. Es ist, als würde es in mir nach jedem Erdbeben zu einem seelischen Nachbeben kommen.”

Kosmas: „In den Tagen nach der Katastrophe herrschte Benzinnotstand in Tokio. Deshalb ist mein Auto heute immer voll getankt. Unsere wichtigsten Dokumente haben wir in einer griffbereiten Tasche deponiert. Sollte es zu einem mittelstarken Beben in der Nähe des Reaktors kommen und die Anlage vollständig kollabieren, würden wir Tokio sofort verlassen und in Richtung Okinawa fliehen. Im Ausland wäre Deutschland ein mögliches Ziel. Dort kann man das Leitungswasser trinken. In Tokio würde ich das nicht mehr tun.”

Keisuke Matsumoto, 32, stammt aus Hokkaido, der nördlichsten Hauptinsel Japans. Er ist seit neun Jahren Buddhistischer Mönch im Komyoji Tempel in Tokio.

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„Während meiner Kindheit habe ich mir nie Gedanken über die Gefahren der Atomkraft gemacht, obwohl ich mit meiner Familie in der Nähe des Reaktors Tomari lebte, dem einzigen Atomkraftwerk der Präfektur Hokkaido. Heute denke ich, Japan sollte aus der Atomkraft aussteigen. Und der Buddhismus darf sich nicht weiter von der Atompolitik instrumentalisieren lassen: In Japan wurden Reaktoren nach Menschen benannt, die erleuchtet worden waren. In der Präfektur Fukui steht in der Nähe der Stadt Tsuruga das Atomkraftwerk Fugen. Es ist stillgelegt und wird derzeit demontiert. Ebenfalls in Tsuruga liegt das Atomkraftwerk Monju. Es ist der einzige schnelle Brüter Japans und liegt ebenfalls in der Stadt Tsuruga. Seinen japanischen Namen hat es vom indischen Bodhisattva der Weisheit, Manjushri. Eine Weltreligion, die das Leiden von Menschen vermeiden will, sollte nicht Namen für Technologien bereitstellen, die Leid über die Menschheit bringen.”

Ryoko Tomomori, 34, Hundefriseurin und Tierschützerin aus Tokio, rettet herrenlose Tiere aus der radioaktiv verstrahlten Sicherheitszone um das Atomkraftwerk Daiichi.

„Seit dem 21. April dürfen keine Unbefugten mehr in die Sperrzone von 30 Kilometern. Die wenigen Wachposten können nicht die gesamte Zone überblicken. Es finden sich Sicherheitslücken, die ich für meine Arbeit nutze: Viele Hunde, Katzen, Schweine, Ziegen haben Erdbeben, Tsunami und Supergau überlebt. Die evakuierten Menschen waren gezwungen, ihre Tiere zu verlassen. Insgesamt habe ich bisher rund 100 Hunde, 30 Katzen, diverse Vögel und Enten aus der radioaktiven Zone geholt. Die sechs Hunde und Katzen, die ich gerade in meinem Friseursalon halte, habe ich zehn Kilometer vor dem Atommeiler aufgegriffen. Sie waren herrenlos, abgemagert und völlig apathisch.
Bei meiner Arbeit trage ich einen Schutzanzug und habe einen Geigerzähler dabei. Kontaminierte Tiere lasse ich von Spezialisten untersuchen. Sind radioaktive Substanzen nur auf dem Fell eines Tieres erkennbar, dekontaminiere ich, indem ich es gründlich mit Seife wasche. Dabei ist wichtig, dass keine radioaktiven Stoffe über die Haut, oder die Atmung in meinen Körper kommen. Das Reinigungswasser darf nicht in die Umwelt gelangen. Nach meiner Arbeit lasse ich mich dann selbst auf Strahlung untersuchen. Ich wasche meine Schutzkleidung, dusche und wasche meine Haare. Später fotografiere ich die Tiere und stelle die Bilder ins Internet, um ihre Besitzer zu finden. Mein Ehemann ist dagegen, dass ich in die Sperrzone gehe, um Tiere zu retten. Aber ich lasse mich nicht abhalten.”

Shimuzu Hirotaka, 43, Gitarrist der Plastic Ono Band, lebt mit seiner Eherfrau in Tokio.

„Es war unser letzter Abend in New York als uns die Nachricht von der Katastrophe in Fukushima erreichte. Yoko Ono bat mich, bei ihren Benefizveranstaltungen mitzuspielen und also tourte ich noch einen Monat mir ihrer Band durch die USA. Als Tepco begann radioaktives Wasser in den Pazifik einlzuassen, brachen die Tourveranstalter empört unsere Charity-Tour ab. Bis heute empfinde ich deshalb eine tiefe Scham für mein Land.
In der Präfektur Fukushima gibt es acht Waisenhäuser, in denen Kinder untergebracht sind, die ihre Eltern durch die Katastrophe verloren haben. Bis heute habe ich vierzig Konzerte auf die Beine gestellt, deren Einnahmen diesen Kindern zur Verfügung gestellt wurden. Meine eigenen Umsätze sind 2011 im Vergleich zum Vorjahr um 50 Prozent eingebrochen, weil amerikanische Konzertveranstalter Tourneen in Japan abgesagt haben und ich weniger gebucht wurde. Die Kunstszene Tokios dünnt inzwischen aus. Viele Musiker haben die Hauptstadt verlassen. Sollte sich die Situation im AKW Daichi weiter verschlechtern werde ich mit meiner Ehefrau Japan wahrscheinlich verlassen und in die USA zu ziehen.”

Tatsuko Okawara, 57, Biobäuerin und Aktivistin aus der Stadt Tamura in der Präfektur Fukushima. Ihr Hof liegt 40 Kilometer von der Reaktoranlage Daiichi entfernt.

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„Vier Tage nach dem Erdbeben wurden wir evakuiert. Ich dachte, wir würden nie wieder auf unseren Hof zurückkehren können. Als dann feststand, dass unsere Gegend nicht radioaktiv kontaminiert war, wurde uns von der Regierung gesagt, wir könnten wieder in unsere Häuser zurück. Doch erst als Greenpeace uns ebenfalls dazu riet, gingen wir tatsächlich heim.
Mein Ehemann und ich leben hier seit 26 Jahren. Auf unserem Hof haben wir Kühe und Hühner. Wir pflanzen auch Obst und Gemüse an. Viele Verbraucher kaufen keine Produkte mehr aus Fukushima. Im Vergleich zum Vorjahr ist unser Umsatz deshalb in 2011 um ein Drittel zurückgegangen, obwohl alle unsere Produkte auf Radioaktivität gemessen werden und einwandfrei unseren Hof verlassen. Ich gebe sie sogar meinen eigenen drei Kindern zu essen. Deshalb fordern wir Landwirte aus Tamura Tepco dazu auf, uns finanziell zu entschädigen. Doch der Betreiber des Reaktors Daiichi weist alle Schuld von sich. Bis heute hat sich nicht ein einziger Mitarbeiter von Tepco in Tamura gezeigt und sich im Namen des Unternehmens für das Desaster, das es angerichtet hat, entschuldigt.”

Tomoyuki Taira, 52, Abgeordneter der Demokratischen Partei Japans, ist Mitglied der Kommission, die die Vorfälle in der Reaktoranlage Daiichi untersucht.

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„Wie die Weltöffentlichkeit rätseln auch wir, was genau in dem Atomkraftwerk während und nach dem Erdbeben geschehen ist. Obwohl wir Tepco monatelang dazu aufgefordert haben, Einsicht in das Handbuch der Anlage zu erhalten, hat unsere Kommission bis heute nur ein Zehntel des Manuals erhalten. Der Ausschuss kann die Ursachen für den Kollaps des Atomkraftwerks nicht untersuchen. Deshalb fordere ich, die Reaktoranlage zu verstaatlichen, um eigene Experten hineinzuschicken: Wir müssen wissen, was genau in den 6 Minuten und 50 Sekunden geschehen ist, die die Tsunamiwelle nach dem Erdstoß benötigt hat, um das Kraftwerk zu erreichen. Tepco behauptet, eine 15 Meter hohe Welle habe das Kraftwerk funktionsunfähig gemacht. Ich kenne Mitarbeiter des Unternehmens, die die Wahrheit sagen möchten, aber aus Angst vor Entlassung, schweigen. Eine Verstaatlichung der Anlage würde Klarheit bringen: Derzeit sollen sich noch rund 76 Millionen Liter hochradioaktives Wasser in den Reaktoren befinden, die Gefahr laufen in den Boden abzusickern oder zu verdampfen. Das meldet Tepco. Wir glauben, es sind wesentlich mehr.”