„Der AUSSTIEG aus der rechten Szene ist wie ein ENTZUG.“

Ein Gespräch mit Bernd Wagner, Kriminalist und Experte für Rechtsextremismus, über die Psychologie von Neonazis, rechte Attentäter und den Ausstieg aus der Szene. Erschienen im Stern, 2011.

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Herr Wagner, Sie haben mir Ihre Telefonnummer, über die ich Sie erreicht habe, erst kurzfristig übermitteln lassen. Ist das eine Geheimnummer, die ich gewählt habe?
Geben Sie diese Nummer bitte nicht weiter und vergessen Sie die sofort nach unserem Treffen.

Warum?
Meine Tätigkeit ist nicht ungefährlich. Man muss nicht jeden Ort, an dem man sich aufhält, publik machen. Es gibt Leute in der rechtsextremistischen Szene, die meine Arbeit nicht gern sehen und immer wieder massiv stören. Ich möchte denen keine offene Flanke bieten, indem ich meine Kontaktdaten unkontrolliert kursieren lasse.

Fühlen Sie sich bedroht?
Die Mitarbeiter von EXIT, also auch ich, erhalten ständig Drohungen, per Brief, Telefon, auch bei öffentlichen Veranstaltungen. Es ist nicht schön, wenn bei Veranstaltungen, zu denen ich eingeladen werde, die Polizei einschreiten muss, weil Nazis mir aus dem Publikum zurufen: „Dich kriegen wir auch noch.” Das passiert immer wieder.

Wie lebt es sich mit dieser Bedrohung?
Ich lebe halt damit.

Haben sie Angst?
Ich kann damit umgehen.

Sie haben also Angst.
Nein, ich sage: Ich kann damit umgehen. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Ich mache meinen Job. Unnötige Gefahren vermeide ich.

Sie helfen, ausstiegswillige Rechtsextremisten aus der Szene zu holen. EXIT gibt es seit elf Jahren. Warum tun Sie das?
Ich habe ähnliche Projekte bereits vor meiner Zeit bei EXIT gemacht. Ich war 1990/91 Leiter des kriminalpolizeilichen Staatsschutzes in den neuen Bundesländern und habe einzelnen Rechtsextremisten geholfen, die Szene zu verlassen. Mit EXIT konnten wir diese Hilfe systematisieren. Es war der neuartige Ansatz dieses Projekts, der mich gereizt hat.

Wie viele Rechtsextremisten konnten sie zum Ausstieg bewegen?
In den Jahren zwischen 2000 und 2005 haben wir 190 Menschen versucht zu helfen. Bei sechs hat es nicht funktioniert, sie sind wieder in die Szene zurückgegangen. Allen anderen konnten wir Schritte zum Ausstieg zeigen. Ähnliche Zahlen können wir bis heute vorweisen.

Was müssen diejenigen mitbringen, die ausstiegswillig sind?
Aussteigen zu wollen bedeutet zu aller erst, den Mut zu fassen, selbständig den ersten Schritt aus der Szene zu gehen. Dies geschieht unter Rechtsradikalen oft dann, wenn sie bemerken, auf dem falschen Pfad zu sein. Diese Leute spüren, dass ihr Leben sich in einen negativen Kreislauf bewegt hat und eine persönliche Entwicklung verhindert. Sie sehen sich als festes Funktionselement einer Szene und merken plötzlich, dass die Bindungskräfte der Szene ihnen zusetzen.

Es muss in dem Menschen also ein Antrieb herrschen, der es ihm ermöglicht, dem starken Sog der Szene zu entkommen.
Ja. Manchmal tun sich berufliche Perspektiven auf, die es erfordern, aus der Szene auszusteigen. Bei anderen ist es eine Liebesbeziehung, die offenbart, dass Partnerschaft und Szene nicht gemeinsam funktionieren. Die Szene erfordert einen hohen Grad an Loyalität. Das geht häufig nicht mit einer Beziehung zusammen.

Sind bei denjenigen, die den Ausstieg nicht schaffen, die Zweifel demnach nicht stark genug ausgeprägt?
Der Ausstiegsprozess kann sehr frustrierend sein: viele glauben, es eröffne sich in der demokratischen Welt – der Welt, die sie bis zum Entschluss auszusteigen, aus tiefster Überzeugung gehasst und bekämpft haben – ein glänzendes Firmament, dass dort ein besseres Leben auf sie wartet. Plötzlich merken diese Leute aber, dass es dieses Leben natürlich nicht gibt bzw. dass man, um Erfolg zu haben, sozial anerkannt zu werden und ein erfülltes Leben zu leben, arbeiten muss. Viele fallen schnell deshalb zurück in die Szene, weil sie ihnen Geborgenheit und Sicherheit suggeriert.

Die Szene ist stark hierarchisiert. Ihr Feindbild ähnelt dem von Linksextremisten: Sie bekämpfen das so genannte „System”.
In rechten Kreisen gehört eine rebellische, im Extremfall eine staatsfeindliche Haltung, die zu terroristischen Handlungen führen kann, in gewisser Weise zum State-of-the-Art. Die Funktion der Gruppe liegt ideologisch betrachtet darin, dem „System” etwas entgegenstellen zu können und gegebenenfalls angreifen zu können, verbal oder durch Handlung. Es werden Feindbilder kreiert, es werden feindliche Gruppen von Menschen etikettiert, die Sinnbilder des „Systems” sind, aber auch Leute, die Einfluss ausüben in eben diesem „System”: der feindliche Politiker oder der Kapitalist. In der antisemitischen Form: der jüdische Kapitalist. In der rassistischen Form: der Fremdländer, der das Deutschtum unterwandert. Sie alle sind Repräsentanten des „Systems”, das ausgeschaltet gehört.

Einerseits versammelt die Szene also Menschen, die sich in die freiwillige Abhängigkeit einer hierarchisch organisierten Gruppe begeben und so Eigenverantwortung abgeben. Andererseits erheben sich diese gleichen Leute, die danach streben in der Gruppe zu verschwinden, eine rechte Rebellion an.
Ja, die Szene neigt dazu stark kollektivistisch zu sein. Das eigene Ich muss zurückgestellt werden. Was aber nicht heißt, dass Egoismen nicht ausgelebt werden. Die Faszination beziehen diese Gruppen aus dem Leben im Verbotenen: Indem man sich am Desperaten beteiligt und sich dem Etablierten widersetzt, verschafft man sich Anerkennung und Größe. Das ist ja ein Muster, das auch linksradikalen Kreisen zu erkennen ist. Die Aura der Geheimbünde, gibt den Leuten, die in ihnen verkehren, ein Gefühl von Selbsterhebung und Relevanz und das kompensiert oft die mangelnde Anerkennung seitens der Gesellschaft.

Was muss ein Rechtsextremist psychologisch aufbringen, um ein von Flüchtlingen bewohntes Haus anzustecken oder einen ausländischen Gemüsehändler umzulegen?
Ganz erheblichen Mut. Die kriminelle Energie, die da investiert werden muss, verweist auf einen hohen Grad von ideologischer Fanatisierung. So ein Attentat begeht keiner im Vorbeigehen. Es sei denn er hat einen psychischen Defekt.

Und wie viel Mut muss einer aufbringen, um durch EXIT auszusteigen?
Ein Neonazi, der aussteigen will, muss mindestens den Mut aufbringen, seinen Entschluss jemanden gegenüber zu bekunden. Das ist bei EXIT vergleichsweise einfach, denn bei uns rennt er offene Türen ein und wird unterstützt. Von denen, die sich bei uns melden sind etwa nur drei Prozent Frauen. Die steigen aus, weil sie sich düpiert werden, sie werden als Menschen zweiter Klasse behandelt. Zudem kommen vor allem unter jungen Müttern auch die Sorgen um die Kinder. Es gibt auch Partnerkonflikte, aus denen die Frauen auszusteigen versuchen. Die meisten Väter in rechten Kreisen sind Kameradschaftsmenschen und gehen ihren kollektivistischen Verpflichtungen nach. Sie vernachlässigen die Familie. Das eigentliche Problem aber ist – gleichgültig ob Mann oder Frau –, den Entschluss der Szene zu mitzuteilen. Das ist ein absoluter Akt des Mutes.

Welche Bedingungen stellt EXIT für den Ausstieg?
Wer raus will, muss zuerst ein Bekenntnis ablegen. Das ist weniger für uns relevant, als für denjenigen, der aussteigen will. Das offene Bekenntnis dient sozusagen als Initiationsritual für den Einstieg ins neue Leben. Es gibt auch die Möglichkeit des stillen Ausstiegs. Dabei streuen wir Informationen, nach denen unser Mann oder unsere Frau schwer erkrankt ist oder den Wohnort wechseln muss. Unsere Regel aber ist: Wer aussteigen will, muss ein Zeichen setzen und die Unumkehrbarkeit seiner Entscheidung auch öffentlich machen.

Wie lange dauert ein solcher Ausstieg?
Der erste Schritt – der eigene Beschluss und das Bekenntnis – ist relativ schnell gemacht. Nach wenigen Monaten aber kommen die Phasen der ideologischen Dekonstruktion, der Einsamkeit, manchmal sogar der tiefen Depression.

Das klingt nach Drogenentzug.
Bestimmte emotionale und energetische Vorgänge beim Ausstieg aus der rechten Szene ähneln tatsächlich dem des Rauschgiftentzugs: Man nimmt den Leuten ja in gewisser Weise ihr Elixier und es muss eine neue soziale Einbindung stattfinden. In manchen Fällen raten wir dshalb zum Wohnortwechsel, wenn es sein muss auch ins Ausland. Wir haben Kontakte nach Schweden, Norwegen, in die Schweiz.

Und wie halten Sie sich die Nazis vom Leib, wenn sie ehemalige rechte Weggefährten aus deren Fänge holen?
Kommen die mir und uns zu nah, erstatten wir Anzeige bei der Staatsanwaltschaft und informieren den kriminalpolizeilichen Staatschutz. Wer mich kennt, weiß, ich bin nicht zimperlich.

DAS IST EXIT
EXIT Deutschland ist eine von dem ehemaligen Berliner Neonazi Ingo Hasselbach und dem ehemaligen Kriminalpolizisten Bernd Wagner Mitte 2000 gegründete Neonazi-Aussteiger-Initiative. Die Initiative bietet Rechtsextremen umfangreiche Hilfe beim Ausstieg und der Resozialisierung an. Bernd Wagner war in der DDR und BRD Kriminalpolizist, zuletzt im Staatsschutz. Er war Oberstleutnant der Kriminalpolizei und Kriminaloberrat im Gemeinsamen Landeskriminalamt der Neuen Bundesländer. 1988/89 war Wagner Leiter des Referates VW/SE und zeitweilig Leiter einer AG „Skinhead” in der Hauptabteilung Kriminalpolizei. Im Zentralen Kriminalamt der DDR war er Leiter der Abteilung Extremismus/Terrorismus und von 1975 bis 1989 SED-Mitglied. Von 1992 bis 1994 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Programm der Bundesregierung gegen „Aggression und Gewalt Jugendlicher in den Neuen Bundesländern” tätig. 1997 gründete er mit Hilfe der Freudenberg Stiftung und der Amadeu Antonio Stiftung das Zentrum Demokratische Kultur (ZDK) in Berlin, das seit 2004 eine gemeinnützige GmbH ist und heute ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur heißt.