Der Castor rollt nach Deutschland. Polizei und Demonstranten machen sich bereit. Fukushima rückt ins Bewusstsein. Julia Leser und Clarissa Seidel, zwei Studentinnen aus Leipzig, filmten den Protest nach der Reaktorkatastrophe in Japan. Erschienen im Greenpeace Magazin, 2011.
Julia Leser, Sie haben im letzten Jahr in Tokio gelebt und an der Wasada Universität Japanologie studiert. Wo waren sie am 11. März als die Erde bebte?
JL: Es muss etwa 14 Uhr 45 gewesen sein. Ich war im zweiten Stock eines Studentenwohnheims in meiner Wohnung, allein. In Tokio bebt es oft. Ich habe deshalb sofort gespürt, dass dieses Beben besonders war. Der Boden unter mir wackelte. Ich konnte nicht geradeaus laufen. Durch das Fenster sah ich, wie Häuser und Stromleitungen draußen schwankten. Von meinen Schränken fielen Bücher hinunter. Ich bekam Angst, und setzte mich unter meinen Schreibtisch. Das Ganze dauerte vier bis fünf Minuten.
Wo war ihre Freundin Clarissa zu diesem Zeitpunkt?
Sie hat einer Kunstausstellung besucht und wurde evakuiert. Zwei Tage später sind wir dann abgereist. Clarissa hatte mich für einen Monat besucht und wollte sowieso heim. Meine Familie hat mich gedrängt, auszureisen. Also flog ich zurück nach Leipzig.
Schon zwei Wochen später sind Sie aber für Filmarbeiten wieder nach Tokio zurückgekehrt. Warum?
Ich hatte mich während meines Studiums mit der Protestkultur Japans beschäftigt. Ich war erschrocken über die Stereotypen, die über den „Japaner“ in deutschen Medien kursierten er sei gelassen, diszipliniert und neige dazu, kritiklos zu sein. Fakt aber war: Die Menschen waren paralysiert von der Dreifachkatastrophe. Als ich dann von den ersten Demonstrationen in Tokio erfuhr, war mir sofort klar, dass da etwas Besonderes in Gange war. Das wollten wir filmen.
Bis zu 15.000 Demonstranten sind gegen die Atompolitik des Landes auf die Straße gegangen. Viele von ihnen waren zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demo.
Die japanische Anti-AKW-Bewegung gibt es zwar seit den 70er-Jahren. Sie war aber zersplittert und meistens nur lokal aktiv. Nach der Reaktorkatastrophe schlossen sich viele dieser Gruppen zusammen und wurden auf nationaler Ebene aktiv.
Einige der Aktivisten, die sie in Ihrem Film porträtieren, stellen den konsumistischen Lebenstil vieler Japaner in Frage. Sie wollen den Kapitalismus abschaffen. Dies würde auch die Atomkraftwerke im Land überflüssig machen.
Deshalb würde ich sagen, es formiert sich dort nicht bloß eine neue Anti-AKW-Bewegung, die eine Energierevolution fordert. Diese Leute stellen die Systemfrage. Das zeigt unser Film.