Jeder Ort in New York ist an jedem Tag fast zu jeder Zeit mit dem Fahrrad besser zu erreichen als mit dem Auto. Ein Ritt mit dem Rad durch eine der schnellsten Städte der Welt.Erschienen im Greenpeace Magazin, 2010. Fotos: Vito Avantario.
Fuckin‘ Jetlag. Die roten Digitalziffern des Weckers zeigen erst fünf Uhr. Es ist Samstagnacht. Die Straßen, durch die gerade hunderttausende Menschen ziehen, sind ausgeleuchtet wie ein OP-Saal. Subways stoßen noch immer durch das unterirdische Tunnelsystem. Taxihorden gieren wie hungrige Hyänen in den Avenues nach Fahrgästen. Ich bin hellwach in New York City.
Sechs Stunden zuvor hatte mir dieser pummelige, gemütliche Mann, der vorgab, ein Opernsänger zu sein, für 200 Dollar ein altes Fahrrad mit Stahlrahmen verkauft: Marke Schwinn, Baujahr 1983, 28erLaufräder, zehn Gänge stark und schwer wie ein Muli. Bob Hope soll so ein Rad gefahren haben, auch Ronald Reagan. Während der Verkäufer aus der alten Fahrradwerkstatt im East Village die Bremsen einstellte, schmetterte Pavarotti sein Nessun dorma aus dem mit Kettenfett verschmierten Radio.
Es stellte sich heraus, dass der Mann kein Blender war, sondern die weltberühmte Arie von Puccini tatsächlich in hellem, lyrischen Tenor mitsingen konnte. Berührt von seinem Gesang, beschloss ich, mich ihm anzuvertrauen. Was sind in dieser Stadt die inoffiziellen Verkehrsregeln für Radfahrer? fragte ich ihn. Der Opernsänger ließ das Lied im Radio ausklingen, dann antwortete er: In Manhattan ist fast alles erlaubt: Viele fahren in entgegengesetzter Richtung durch die Avenues, die Einbahnstraßen sind. Jeder überquert rote Ampeln. Viele hören dabei über Kopfhörer Musik. All dies sei verboten. Aber kein Mensch halte sich an die Gesetze. Begib dich in den Fluss des Verkehrs, werde Teil des organisierten Chaos, empfahl mir der Opernsänger.
Mitten in dieser tropisch-heißen, windstillen Augustnacht stehe ich nun also in den Straßen von Chelsea. Im Schlachthofviertel riecht es nach Straßenküchen, Autoabgasen, Müll und Urin. Ich öffne das Schloss, steige auf mein behäbiges Rad und nehme mir vor, einen für Radfahrer ungemütlichen Ort aufzusuchen: Ich schalte meine Augen auf Weitwinkel, starte meinen MP3-Player und fahre in Richtung Times Square.
I. Midtown – Stayin Alive, The Bee Gees
Es ist die Zeit der hochgejazzten Partypeople, die betrunken, mit aufgerissenen Autofenstern, johlend durch die Hochhausschluchten rasen. Auf dem Broadway, einem Flickenteppich von Asphalt, teile ich mir die durch einen weißen Streifen vom Autoverkehr abgegrenzte Radspur mit Taxifahrern, die mir immer wieder bis auf wenige Zentimeter zu Leibe rücken. Im Verkehrsdschungel von New York gehören sie zu meinen natürlichen Feinden. Im letzten Jahr sind 282 Radfahrer bei Zusammenstößen mit Taxis verletzt worden. Manche von ihnen kamen zu Tode, weil sie in Türen krachten, die Fahrgäste unbedacht geöffnet hatten.
Vier Muskelmänner auf Chopper-Fahrrädern biegen auf meine Spur ein. Um sich eine Schneise in die auch bei Rot über die Straße marschierenden Fußgängermassen zu schlagen, setzen sie vor jeder Ampelkreuzung laute Hupen ein. Ich hänge mich in ihren Windschatten, um zu erfahren, wohin es Angeber wie sie in einer solchen Nacht verschlägt, und sie schleppen mich zu meinem Ziel.
Der berühmteste Platz der Welt ist taghell erleuchtet. Das Licht strömt aus Werbetafeln, Bildschirmen, Schriftzügen und den geöffneten Toren der Theater, Kinos, Geschäfte und Restaurants. Selbst Straßenlaternen, die idiotischer als an diesem Ort nicht sein können, leisten ihren Beitrag zum Lichtoverkill: Wie ein Magnet saugt der Times Square Autos, Taxis, Touristenbusse, berittene Cops und Pferdekutschen an und entsendet den monströsen Verkehr in verträglichen Happen zurück in die Adern der Stadt.
Wie vom Opernsänger empfohlen, gebe ich mich dem Fluss der Verkehrs hin und surfe von Polizisten unbeachtet, von Autofahrern höflich vorgelassen von einer Spur auf die nächste, bis ich an der Stelle des Platzes lande, an dem der aus Pakistan stammende US-Amerikaner Faisal Shazad im vergangenen Mai eine aus Benzinkanistern, Propangasflaschen, Feuerwerkskörpern, Dünger und einem Kochtopf bestehende Autobombe zünden wollte.
Ich versuche, mir das Drama eines solchen Attentats auf diesem Platz auszumalen, den bis zu 300.000 Menschen pro Tag passieren. Doch bevor mich der Gedanke erdrückt, befreie ich mich aus der Umklammerung dieses in allen Belangen völlig überalarmierten Ortes und entschwinde in Richtung Fifth Avenue: Im reißenden Verkehrsstrom lasse ich mich auf der Mittelspur von der grünen Welle der Ampeln am Empire State Building vorbei 40 Blocks in Richtung Süden spülen. Nach meinem Bad in der Blechlawine rolle ich im West Village aus.
II. Chelsea – Native New Yorker, Odyssey
Ich fahre bis zur 14. Straße, Ecke 9. Avenue, weil ich den bekannten Radweg befahren möchte, der wie ein Bypass parallel zur Avenue verläuft. Janette Sadik Khan, die Leiterin des New York City Department of Transportation, hat ihn vor neun Jahren bauen lassen.
Unter Radfahrern gilt Sadik Khan als eine der großen Visionärinnen der Stadt. Konsequent arbeitet sie daran, den am Earth Day 2007 von Bürgermeister Michael Bloomberg ins Leben gerufenen Nachhaltigkeitsplan umzusetzen. Er hat zum Ziel, den Treibhausgasausstoß New Yorks bis 2030 um 30 Prozent zu verringern, obgleich die Bevölkerung bis zu diesem Zeitpunkt voraussichtlich um eine Million Menschen wachsen wird.
Um das Ziel zu erreichen, wurden unter anderem 198.000 Quadratmeter Straßenfläche zu Fußgängerzonen und Radspuren umgewandelt: Im Stadtbereich sind inzwischen 700 Straßenkilometer ausschließlich für Radfahrer reserviert. Im Jahr 2030 sollen es 2900 Kilometer sein. Insgesamt, hat Sadik Khans Behörde ermittelt, sind in New York inzwischen täglich mehr als 200.000 Menschen mit dem Fahrrad unterwegs.
Dass sie sich auf die Seite der Radfahrer geschlagen hat, nehmen ihre politischen Feinde ihr übel: Sie streuen das schmutzige Gerücht, die sportliche 49jährige trage nie Röcke, die ihr über die Knie gehen. Dabei ist es ihr großes Verdienst, dass New York inzwischen die Stadt mit den meisten Radwegen in den USA ist.
Ich biege in die 9. Avenue ein, vor mir liegt nun also dieser 15 Blocks lange Radweg. Er ist durch Verkehrsinseln, durch Poller, Bäume und Blumen vom Autoverkehr abgetrennt. Der Parkstreifen wurde auf die Straße verlegt und schützt mich vor dem Autoverkehr. Ich fühle mich sicher. Doch Anwohner und Ladenbesitzer verfluchen den Radweg. Es ist 9 Uhr 30.
We are pissed off, schimpft der Besitzer des Alaska Food Shops an der 17. Straße. Er klagt über drastische Umsatzrückgänge, seitdem Autofahrer nicht mehr für ihre Blitzeinkäufe am Straßenrand halten können. Die Blumenverkäuferin an der 22. Straße beschwert sich lautstark darüber, dass sich nun der gleiche Verkehr durch eine schmalere Avenue pressen muss. Seitdem herrsche hier nur Chaos. Wer Menschen in einer schnellen Stadt wie New York das Autofahren erschwert, nimmt ihnen ihre Unabhängigkeit, sagt sie.
III. Riverside Park – New York State of Mind, Billy Joel
Warum Großstädter an dem Glauben festhalten, Autofahren mache autonom und mobil, bleibt ein Rätsel: In Manhattan ist an jedem Tag der Woche so gut wie jeder Ort zu fast jeder Zeit mit dem Rad besser und schneller zu erreichen als mit dem Auto: Über den Hudson River Bikeway fahre ich am langsamsten Tag der Woche, dem Sonntag, zu einem der langsamsten Orte in New York, dem Riverside Park. Die 30 Kilometer lange Fahrradautobahn führt die gesamte Westseite von Manhattan entlang bis zum nördlichsten Punkt der Insel, dem Inwood Hill Park.
Am Hudson riecht New York heute nach offenem Meer. Zum ersten Mal gerate ich in dieser sonst ständig verstopften Stadt über eine Strecke von mehreren Kilometern in eine rhythmische Trittfrequenz und erreiche im Park eine Spitzengeschwindigkeit von 35 Stundenkilometern. Hin und wieder muss ich einem scheißenden Eichhörnchen ausweichen, sonst ist es in der Grünanlage ruhig wie auf einem Friedhof.
Als ich auf Höhe der 110. Straße aus dem Park in Richtung Harlem abbiegen will, fällt mir eine weißhaarige Frau auf einer Parkbank auf. Sie muss um die 70 Jahre alt sein. Wie viele alte Menschen in der Stadt wirkt sie verwirrt. Sie beendet ihr Selbstgespräch, als sie mich entdeckt, und winkt mich, als sich unsere Blicke kurz treffen, zu sich. Sie trägt Nike-Turnschuhe, ein weißes Kleid und ein Batik-T-Shirt in violett. Dann erkenne ich den Aufdruck auf ihrer blauen Schirmmütze: I ♥ JESUS steht da.
Sonntag. Alte Frau. Selbstgespräch. Hippiekleidung. Jesus: Ich stelle mich darauf ein, um Geld gebeten oder Zeuge einer bizarren Lebensbeichte zu werden, aber sie fragt mich bloß höflich nach einer Zigarette. Ich reiche ihr eine American Spirit, gebe ihr Feuer und die Frau schenkt mir im Gegenzug ein Madonnenbild, das die Mutter Jesu im Paradiesgarten zeigt. Sie bedankt sich und schickt mir, als ich mich wieder auf den Weg mache, mit einem Lächeln hinterher: God takes care of you.
IV. Harlem – Across 110th Street, Bobby Womack
Ich biege in den Nordeingang des Central Parks ein, weil ich die bekannteste inoffizielle Fahrrad-Rennstrecke der Stadt befahren möchte, den Park Drive. Dort angekommen, mische ich mich unter die zumeist aus der New Yorker Oberschicht stammenden, weißen Rennradfahrer, um mich mit ihnen zu messen. Vier Runden lang kämpfe ich mit meinem scheppernden Drahtesel verzweifelt gegen ihre schnurrenden Fahrradboliden an und verschwinde, bevor ich mich wie ein besiegter Mensch fühle, über den Columbus Circle in Richtung Lower East Side zur Manhattan Bridge, die nach Brooklyn führt.
Auf der Suche nach der Brückenauffahrt frage ich einen Radfahrer nach dem Weg. Wir kommen ins Gespräch. Er stellt sich als Kevin vor. Er gehöre der Fixed-Gear-Radszene an, sagt er. Ihre Anhänger fahren Räder, die keine Bremsen, eine feste Kurbelwelle und nur einen einzigen Gang haben. Unsere Idee vom Radfahren besteht darin, sich dem Fluss des Verkehrs anzupassen, vorausschauend zu fahren, so wenig wie möglich zu stoppen, erklärt der Fahrradfundamentalist. Wir streben nach der totalen Freiheit auf zwei Rädern. Wie viele andere trägt Kevin sein monströses Kettenschloss wie einen Patronengurt diagonal um Schulter und Hüfte. Er sieht aus wie ein Großstadtsöldner.
Für die meisten New Yorker Autofahrer ist ein Fahrradweg bloß eine weiße Linie auf dem Asphalt, sagt er. Deshalb hat die Umweltschutzorganisation Times Up, deren Mitglied er ist, das Bureau of Organized Bikelane Safety (B*O*O*P*S) gegründet. Die Aktivisten verscheuchen auf der Radspur parkende Autofahrer, indem sie diese an das dafür angesetzte 115-Dollar-Bußgeld erinnern. Aus ihrem Kreis stammen auch jene Kämpfer für ein ökologisches New York, die im Stadtteil Williamsburg eine sechs Kilometer lange Fahrradspur wieder auf das Pflaster malten, die Mitglieder der chassidischen Gemeinde mit einem Sandstrahler entfernt hatten. Die streng religiösen Juden waren der Ansicht, die an Sommertagen freizügig gekleideten Radfahrer stellten eine Gefahr für Sicherheit und Religion dar. Verhaftet wurden damals allerdings nur die Radaktivisten aus Brooklyn, erzählt Kevin. Dann verabschiedet er sich.
V. Ground Zero – New York Is Killing Me, Gil Scott-Heron
Seitdem die kreative Szene sich in den 90er-Jahren den vulgären Mietpreisen in Manhattan entzogen hat und es bevorzugt, von der anderen Seite des East River auf die Skyline von Manhattan zu schauen, hat sich der Radverkehr auf der Manhattan Bridge vervierfacht. 1500 New Yorker fahren täglich mit dem Rad über diese Brücke von Brooklyn nach Downtown. Dort wird der gesamte Verkehr von der Baustelle am Ground Zero dominiert, an der sich auch heute einen Tag nach den Gedenkfeiern zu 9/11 wieder Dutzende Menschen versammelt haben, um gegen das von Imam Feisal Abdul Rauf geplante muslimische Zentrum zu protestieren. Es soll 150 Meter Luftlinie von Ground Zero entfernt in einem abbruchreifen Haus entstehen.
Keine Killer-Moschee hier, Dies ist heiliger Boden, Gegen eine Massenmörder-Moschee lauten einige der Parolen auf den Plakaten. Es kommt zu Handgreiflichkeiten zwischen moderaten Demonstranten und islamophoben Hardlinern, während unweit der Auseinandersetzung ein schwarzer Christenprediger für die Taten der Terroristen um Vergebung bittet. Jesus Christ is the greatest, ruft er einer Gruppe arabischer Touristen zu, die nichts zu verstehen scheinen und sich der fotogenen Baustelle zuwenden, einem Krater so groß wie drei Fußballstadien. In diesem Moment, in dem die Linsen ihrer Fotoapparate aufund zuschnappen, herrscht auf der anderen Seite der Erde noch immer Krieg, sterben im Irak und in Afghanistan infolge der monströsen Anschläge vor neun Jahren noch immer Menschen.
VI. Battery Park – Empire State of Mind (Part II), Alicia Keys
Bevor die Erinnerung an das Attentat meine Stimmung umwölkt, flüchte ich ins Schöne. Kitsch und Katastrophen liegen in New York oft nur wenige Pedaltritte voneinander entfernt.
Ich bin inzwischen einen Tag lang unterwegs. Die blaue Stunde ist angebrochen und eine große Müdigkeit überkommt mich. Über den Battery Park fahre ich in Richtung Norden nach Chelsea. Der samtweiche Ostwind hat den Schmutz aus der Stadt geweht. Ich drehe mich noch einmal um und betrachte die Skyline im Süden der Stadt, die sich mit rasiermesserscharfen Konturen wie ein Gebirge aus Beton, Stahl und Glas in den wolkenlosen Himmel erhebt. Ein frisch vermähltes, schwarzes Ehepaar posiert an der Uferpromenade vor der Kulisse von New Jersey für das Hochzeitsalbum. Sie trägt ein champagnerfarbenes Kleid, er einen violetten Smoking. Die beiden prosten sich mit ihren Sektgläsern zu, und ich radle, während sie ihre Lippen ineinanderlegen und sich küssen, an ihnen vorbei nach Hause zu meinem Appartement.
Auf der Couch wische ich mir noch den Staub des Tages aus den Augen. Bald beginnt der Verkehrslärm aus meinem Kopf zu weichen und ich vernehme, mitten in Chelsea, das immer lauter werdende Zirpen von Grillen. Ein letztes Mal hole ich tief Luft und spüre eine immense Weite in meinem Brustkorb: Durch den vielen Sauerstoff, den ich im Laufe des Tages eingeatmet habe, fühle ich mich wie ein Mensch mit sieben Lungen. Dann legt sich der Schlaf wie ein dunkles Netz über mich. Meine Träume sind randvoll mit New Yorker Radfahrergold.