Giuseppe Bergomi war lange Zeit mit 758 Pflichtspielen Rekordspieler für Inter Mailand. 1982 ist der ehemalige Weltklasseverteidiger im Alter von 18 Jahren mit der italienischen Nationalmannschaft gegen Deutschland Weltmeister geworden. Später war er Kapitän der Meistermannschaft von Inter Mailand, in der Lothar Matthäus und Andy Brehme 1989 wichtige Säulen waren. Jürgen Klinsmann stieß als dritter Deutscher ein Jahr später zum Team. Heute arbeitet Bergomi als TV-Kommentator für das Bezahlfernsehen von Sky. Ich treffe ihn zum Gespräch im Vorgarten seiner Wohnung im Mailänder Viertel San Siro. Erschienen in 11FREUNDE, 2009, hier in der ungekürzten Fassung.
Herr Bergomi, könnten Sie mir bitte die Stammformation ihrer Meistermannschaft von 1989 auf dieses Blatt Papier notieren und daran die Rollen der deutschen Spieler beschreiben?
Gern, wenn Sie mir bitte sagen, wie die Nachamen der beiden geschrieben werden? Sie haben im Deutschen diese merkwürdigen Buchstaben, auf denen Doppelpunkte stehen. Lothars Nachname hat so ein Schriftzeichen, oder?
Ja. Matthäus wird mit Doppel-T, H und Ä geschrieben. Brehme mit H hinter dem ersten E.
Und stimmt es auch, dass Klinsmanns Vorname auf dem U mit einem Doppelpunkt geschrieben wird? Diese Buchstaben gibt es im Italienischen nicht. Die meisten Menschen in Italien haben Jürgen seinerzeit falsch gerufen, wir nannten ihn: Jurgen.
Klinsmann stieß ein Jahr später zur Meistermannschaft. Zuvor waren Brehme und Matthäus fundamentale Spieler für Inter. Warum?
Trainer Trapattoni ließ uns in der Abwehreihe als Dreierkette spielen. Ferri und ich waren Manndecker. Mit der Spielweise Matteolis, unseres zentralen Abwehrmanns, hatte Trap eine neue Rolle erfunden – er spielte damals schon einen mordernen Sechser, wie ihn heute etwa Andrea Pirlo vom AC Milan prototypisch darstellt. Der heimliche Regisseur aber neben Matteoli war dieser hier (Bergomi kreist seinen Namen ein, Anm. d. Autors): Brehme.
Auf welche Weise konnte er das Spiel von Inter bereichern?
Brehme konnte mit links und rechts schießen, was ihm viele Möglichkeiten der Spieleröffnung über unsere linke Seite gab. Er beschleunigte und verzögerte das Spiel, oder legte sich den Ball auf seinen rechten Fuß und riss das Feld auf, indem er hinüber zu unseren Mittelfeldmotoren Nicola Berti oder Lothar Matthäus passte. Andy war eine besonders angenehme Überraschung, weil wir vorher nicht genau wussten, was uns mit seiner Verpflichtung erwartete.
Brehme und Matthäus wurden damals im Doppelpack von Bayern München zu Inter transferiert, Matthäus aber war die eigentliche Attraktion.
Ja, Matthäus war wirklich außergewöhnlich. Wenn er entschied zu gewinnen, gewannen wir. Ich erinnere mich an ein Pokalspiel: Wir lagen zurück und traten in eine entscheidende Phase des Spiels ein, als Lothar plötzlich zu mir sagte: Beppe, gib mir den Ball, ich mache das Tor. Es klang irgendwie lächerlich, ich schob Lothar dennoch ungläubig den Ball zu und er marschierte los. Matthäus verfügte über diese unglaubliche Dynamik, für die er berühmt war. Ab 25 Meter vor dem Tor wurde es brenzlig für jeden Gegner, denn ab hier begann der tödliche Radius von Matthäus. Zudem war er mit einer tiefen Intuition darüber ausgestattet, welche Strategie zu welchem Zeitpunkt des Spiels zum Ziel führt. Er machte übrigens dann tatsächlich ein Tor. Wir glichen aus und das Pokalspiel kippte zu unseren Gunsten.
Bevor Klinsmann kam, spielte die Meistermannschaft mit der sehr erfolgreichen Doppelspitze Ramon Diaz und Aldo Serena. Warum hat man Klinsmann überhaupt gekauft?
Ich nehme an, er hätte schon ein Jahr zuvor gemeinsam mit Matthäus und Brehme zu uns stoßen sollen. Inter hatte sich parallel auch um Rabah Madjer (Die Hacke Allahs) bemüht. Zur ärztlichen Untersuchung stellte er sich aber mit einer enormen Oberschenkelverletzung vor, also lehnte Inter ihn ab. Der Transfermarkt schloss und man nahm erstmal Ramon Diaz unter Vertrag, weil er unkompliziert zu haben war, obwohl man wohl auch in Verbindung mit Klinsmann in Stuttgart stand. Als Jürgen ein Jahr später zu uns stieß, gab man Diaz ab. Der Weggang des Argentiniers war nicht einfach zu verkraften, weil dadurch unser Spiel an Variabilität verlor.
Die Spielanlage Serenas war ähnlich kraftvoll und geradlinig wie die von Klinsmann, was ihr Spiel etwas berechnbarer machte.
Ja. Wir nannten Aldo Serena die Eiche. Er hatte keine guten Füße, aber er war eine Säule von Mann. Wenn spielerisch nichts mehr ging – rumms – spielten wir lange Bälle auf Aldo und er stopfte sie mit seinen Eisenfüßen in den Kasten. Jürgen zeichnete sich durch ein sehr aufwendiges Spiel aus; er war ein Mann, der großes Leidenspotential besaß. Jürgen eroberte Räume und Bälle, aber Aldo und er waren technisch nicht so stark wie Diaz, der in jeder noch so schwiergen Situation anspielbar war und meist eine gute Lösung hatte. Mit Jürgen konnten wir das Meisterstück zwar nicht wiederholen. Aber mit ihm wurden UEFA-Cupsieger.
Die Deutschen waren die einzigen Nicht-Italiener in der Mannschaft. Wie fügten sich die Deutschen in ihr neues Leben ein?
Sie müssen entschuldigen, wenn ich lache, aber ich sehe Andy und Lothar gerade vor mir: wir waren damals im Trainingslager in Varese. Nach einem Trainingstag besuchte ich die beiden am Abend in ihrem Zimmer, weil ich mich als Kapitän der Mannschaft für die Neuen verantwortlich fühlte. Ich klopfte also an die Tür, trat hinein und da lagen beide auf ihren Betten wie kleine Kinder, hatten ein deutsch-italienisches Wörterbuch aufgeschlagen und lernten artig elementare Wörter wie Löffel, Gabel und Tisch. Und das Waschbecken des Zimmers war gefüllt mit Eiswürfeln und Bierflaschen. Also luden sie mich zum Bier ein und wir tranken zusammen. Wir alle in der Mannschaft mochten die Jungs. Und ich glaube, sie mochten uns auch.
Wie unterschieden sich die drei Neuen voneinander?
Lothar und Brehme waren, wie wir uns in Italien deutsche Männer vorstellten: sie waren im besten Sinn geradlinig und diszipliniert, aber auch etwas steif. Klinsmann dagegen war nachdenklicher, feinsinniger und von einem leichteren Gemüt. Er war sehr neugierig und hatte unbändige Lust zu erfahren, wie die Leute in Italien leben. Im Gegensatz zu Lothar und Andy hat Jürgen sehr schnell italienisch gelernt, ähnlich wie Karl-Heinz Rummenigge und Hansi Müller, die in den 80ern für Inter spielten. Jürgen arbeitete hart und trieb nicht nur sich selbst bis an die Grenzen, auch andere.
Diesen Ruf hat er auch heute. Er gilt als ein Trainer, dessen Stärke vor allem die Motivationskunst ist.
Das wundert mich nicht. Während andere damals nach dem Training duschen gingen, trainierte er noch Torschüsse, Flanken und Kopfbälle. Er war bereit sich zu schinden, rannte und quälte sich für die Mannschaft – und dann waren da auch seine akrobatischen Tore, die er erzielte …
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sie hatten oft spektakuläre Choreografien: Flugkopfbälle, Volleyschüsse, Fallrückzieher …
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und nach seinen famosen Treffern rannte er mit diesen für ihn typischen federnden Schritten berauscht in die Fankurve, während seine blonde Mähne im Wind wehte. Jürgen war ein wunderbarer Spieler. Man musste ihn lieben. Er hatte einen besonderen Geist und das spürten die Menschen. Jürgens Art hat dem Mailänder Publikum sehr gefallen.
Waren Klinsmann und Matthäus schon damals Rivalen?
Sie liebten sich nicht. Es spürte dies selbst, wer kein deutsch verstand. Sie waren sehr unterschiedliche Menschen, die offenbar beide einen Führungsanspruch auf die Mannschaft hatten, in der sie spielten und das lebten sie vielleicht unterschwellig gegeneinander aus. Darin glichen sie sich wahrscheinlich sogar ein wenig.
Und was unterschied sie?
Klinsmann kam mit seinem VW Käfer zum Training, trank niemals Alkohol und spielte keine Karten. Er wirkte auf mich, wie ein Alternativer. Weil er Junggeselle war, ging er häufig mit den anderen Singles unseres Teams aus, mit Berti und Serena. Matthäus war verheiratet. Er pflegte zudem mit unserem Trainerstab auf Augenhöhe zu sprechen und die Ausrichtung der Mannschaft bestimmen zu wollen: es gab einen Grundkonflikt zwischen Matthäus und Trapattoni, weil Lothar fand, die Mannschaft stünde insgesamt zu defensiv.
Wie reagierte Trapattoni darauf?
Der Trainer sah das natürlich anders. Aber als er Lothars Einwände eines Tages nicht mehr hören konnte, sagte er zu ihm: Lothar, ist ja gut, du hast alle Freiheiten: Spiel wie und wo du willst? Und von dem Tag an tauchte Lothar immer in unserer Abwehr auf. (lacht). Aber im Ernst: Lothar war zweifellos unser stärkster Spieler und jeder in der Mannschaft hat ihn als Chef anerkannt. Eines Tages habe ich aber zu ihm sagen müssen: Lothar, du bist unumstritten der Stärkste von uns und wir erkennen dich als unseren Leader an. Aber lass dich auch vom Publikum und deinen Mitspielern lieben.
Wie meinten sie das?
Wissen sie, Diego Maradona mochten damals alle beim SSC Neapel, obwohl er kein mustergültiger Profi war. Sein Lebenswandel war umstritten und sein Engagement im Training ließ zu wünschen übrig. Während eines Spiels aber zog Maradona nicht nur die Mannschaft mit, ähnlich wie Matthäus. Diego bedankte sich später stets bei allen und stellte in der Öffentlichkeit meist seine Mannschaft in den Mittelpunkt, nie sich selbst. Dafür liebten ihn Mitspieler und Zuschauer.
Beim 100jährigen Jubiläum von Inter im vergangenen Jahr gab es große Sympathiebekundungen der Zuschauer vor allem mit der Meistermannschaft von 1989. Wie erinnern sie die Begegnung mit ihren ehemals deutschen Mitspielern?
Ich habe mich sehr gefreut, sie alle wiederzutreffen. Mit Jürgen aber verbindet mich eine besondere Erinnerung: Als ich 1999 mein Abschiedsspiel gab, hatte ich auch ihn eingeladen. Er hat damals sofort zugesagt und wollte keine Antrittsgage, wie andere, die ich gefragt hatte, obwohl es sich um ein Benefizspiel handelte. Nicht mal die Reisespesen wollte er erstattet bekommen. Er reiste ja immerhin aus den USA an. Das war ein großes Geschenk, das ich Jürgen niemals vergessen werde.