In diesem Februar 2008 jähren sich zum 150. Mal die Erscheinungen der Bernadette Soubirons. Dem Bauernmädchen will 1858 an einer Grotte an der Gave die Heilige Mutter erschienen sein. Seitdem gilt die Quelle in Lourdes in Frankreich als Wunder- und Wohlfahrtsstätte. Erschienen in DB Mobil, 2008.
Der Organist entsendet seine letzten Akkorde, die sich wie ein wärmender Mantel über die friedliche Kirchengemeinde legen. Die meisten der Gläubigen in der Rosenkranzbasilika von Lourdes sind tief in ihr Kommunionsgebet versunken. Die Morgenmesse neigt sich dem Ende. Auf dem prächtigen Vorplatz der Kirche flanieren Tausende Menschen wie jeden Morgen während der Pilgersaison aus dem kleinen Städtchen am Rand der Pyrineen herüber in den heiligen Bezirk.
Geschäfte gibt es hier nicht, Rauchen ist verboten, Handy müssen ausgeschaltet werden, Autos fahren hier nicht. Menschen aus aller Welt kommen zu Fuß oder werden transportiert: Kranke auf Krücken, in Rollstühlen oder auf Tragen kommen in der Hoffnung nach Lourdes, ihr Schicksal könnte an dem Ort eine Wendung nehmen, dem der Ruf nachgeht, hier geschähen Wunder. Weil dem 14jährigen Dorfmädchen Bernadette Soubirons 1858 an einer Grotte an dem benachbarten Fluß Gave die Heilige Mutter erschienen sein soll, ist Lourdes heute einer der großen heiligen Orte der Menschheit. Damals hatte Bernadette bei einem Spaziergang an die Gave eine Vision, bei der ihr angeblich eine weiße Dame erschienen sein soll.
Heute würden Psychologen diese Visonen wahrscheinlich Innerpsychische Projektionen nennen. Damals hielten Politik und Klerus Bernadette für psychotisch und geistesgestört. Hätte Bernadette einige Jahrhunderte vorher gelebt, sie wäre als Hexe auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden. Als aber immer mehr Menschen mit dem Mädchen zu der Grotte pilgerten und zeuge von weiteren 13 Erscheinungen des Mädchens wurden, begannen Ärzte und Kirche die Glaubwürdigkeit von Bernadette zu prüfen und deklarierten, Bernadette sei tatsächlich die Heilige Mutter Maria erschienen. Betet, tut Buße, kommt in Prozessionen und wascht euch an der Quelle, soll einer der Aufträge der Heiligen Mutter an Bernadette gelautet haben. Seitdem gilt Lourdes Wasserquelle an der Grotte als eine der großen heilgen Stätten der Menschheit.
Natürlich kehren die meisten Kranken, die kommen, genauso krank wieder nach Hause zurück, sagt Dr. Patrick Theillier. Seit 1998 ist er Leiter des ärztlichen Kommitees im heiligen Bezirk von Lourdes. Das warme Sonnenlicht aus dem Fenster leuchtet Dr. Theillier freundliches Gesicht aus. Er sitzt in seinem Büro in einem der beiden Hospize des heilgen Bezirks. Dr. Theillier redet sicher, besonnen, in gutgewählten Worten. Dabei hält er eine Liste in der Hand, in der 67 Menschen gelistet sind, deren schwere Krankheiten auf medizinisch unerklärliche Weise geheilt wurden, nachdem sie das Wasser der Grotte tranken oder sich damit wuschen.
30.000 Fälle wurden dem ärztlichen Komitee in Lourdes seit der ersten Erscheinung von Bernadette gemeldet. Allein fünf Fälle von Wunderheilung verzeichnet die Liste von Dr. Thellier noch in 1858, dem Jahr der Erscheinungen: ein Blinder etwa konnte wieder sehen, eine Gelähmte wieder gehen. Zwei der 67 Fälle von wunderlicher Heilung fielen in die Amtszeit von Dr. Theillier: 2005 wurde eine Frau aus dem italienischen Salerno von ihrem Gelenkreumathismus geheilt. 1999 verschwand auf mysteriöse Weise die Multiple Sklerose eines Franzosen. Erstaunlich an ihm war, daß die Bilder des Computertomografen noch alle Symptome der Krankheit aufwiesen, der Mann aber keinerlei Schmerzen mehr hatte, sagt Dr. Theillier.
Die Heilung beider Menschen überschritt seiner Meinung nach jede rationale Erklärung. Nach mehrfachen Konsultationen mit Medizinexperten aus aller Welt, kam er zu dem Schluß, daß es für die Genesung der beiden Menschen keinerlei wissenschaftliches Motiv gab. In solchen Fällen sprechen wir von Unerklärlicher Heilung, sagt Dr. Theillier. Die Kirche prüfte auf Empfehlung des Arztes die Fälle und stufte die Heilungen der beiden Menschen Jahre später als Wunder ein. Erstaunlicherweise findet sich in der Liste von Dr. Theillier in den Jahren zwischen Bernadettes erster Erscheinung und 1962 kein Geheilter, der aus Lourdes selbst stammt. Auf die Einwohner dieser Stadt wirkte der Zauber der Stätte offenbar lange Zeit nicht.
Sonderbar ist auch das Treiben im weltlichen Teil von Lourdes. Am Rand des heiligen Bezirks hat sich ein Hotelviertel angesiedelt, das nur im Winter einer Geisterstadt gleicht. Dann schwingen in Lourdes keine Gebete sich zum Himmel empor, die großen Geistlichkeiten sind auf Reisen, fast alles fehlt dann an dem großen Theater von Lourdes. Allein sechs Millionen Übernachtungen meldeten die rund 400 Hotels der Stadt im letzten Jahr. In der Pilgersaison von April bis Oktober hingegen gleicht das Hotelviertel einem christlichen Jahrmarkt.
Menschenmassen schieben sich durch die schmalen Straßen an Devotionaliengeschäften, Kaffees, Restaurants und Bars vorbei, die sich wie die Perlen einer Kette aneinander reihen. Eine feine blaue Linie auf dem Bürgersteigen diktiert den Geschäfteinhabern wie weit sie mit ihren Produkten die Pilger bedrängen dürfen: Bilder von Papst Johannes II. gibt es zu kaufen, Madonnenstatuen, Rosenkränze oder Plastikkanister, mit denen man an dem zwanzig Meter langen, verchromtem Wasserrohr der Grotte drüben das angeblich heilende Wasser abfüllen kann.
Vor dem Eingang zum im Heilgen Bezirk hockt ein Bettler mit seinem leeren Pappbecher mitten auf der Kreuzung und hofft auf Almosen. In der folgenden halben Stunde, in der ich die Szene beobachte, ziehen die allermeisten Gläubigen an ihm vorbei ohne einen Cent zu geben. Er ist ein Rumäne, höre ich ein deutschsprechendes Paar über den Mann flüstern. Das Gerücht geht hier um, Rumänen seien für die Serie an Taschendiebstählen in letzter Zeit verantwortlich. Eine junge Nonne zieht eilig vorbei und ich erkenne, daß sie Schuhe mit dem Logo von Dolce & Gabbana trägt. Von weitem ist eine Ambulanzsirene zu hören. Reisebusse quälen sich durch die Gassen. Immer wieder fahren so genannte Chariots an den am Straßenrand eigens für sie markierten Fahrbahnspuren vorbei, blaue Droschken, in denen die Kranken aus den vielen Krankhäusern der Stadt in den heiligen Bezirk transportiert werden.
Hier berührt sich für uns Himmel und Erde, sagt Johann Zeiner, ein herzlicher, alter Mann. Er lächelt und es fällt auf, dass er für sein Alter erstaunlich weiße Zähne hat. Gestern sei er gemeinsam mit seiner Ehefrau Rosa in einer vom Deutschen Pilgerbüro organisierten Gruppenreise aus dem Landkreis Dachau in Bayern angereist. Johann und Rosa sitzen auf einer Parkbank und beobachten das friedliche Treiben auf dem Platz der Rosenkranzbasilika. Sie hält liebevoll seine rechte Hand. Wir sind hier, um für unsere Lieben zu beten und der Heiligen Maria zu danken, sagt Rosa. Vor fünfzehn Jahren war das Ehepaar zum ersten Mal in Lourdes. Wer weiß, ob sie eine nächste Gelegenheit dazu bekämen, sagt Johann.
Er berichtet von seinem Herzinfarkt. Seine Frau Rosa leide an Bronchialasthma. In meinem Alter ist man sich bewusst darüber, dass sich das eigene Leben dem Ende neigt. Es ist, als stünde ich an der Front. Beim nächsten Schuss könnte ich getroffen werden und dann ist es vorbei, sagt Johann ernst. Die Zeit, die ihnen gemeinsam verblieben ist, möchte sie gemeinsam nutzen sich ihrem Glauben zu widmen. In Lourdes ginge das noch, in Bayern nicht mehr. Immer weniger Menschen gingen dort in die Kirche, sagen sie. Für Johann du Rosa ist Lourdes dagegen so etwas ein metaphorischer Raum, eine christliche Oase, in der sich der Glaube Zehntausender Menschen energetisch entfaltet und so die Menschen positiv auflädt. Lourdes gebe ihnen das Gefühl Teil einer Glaubensgemeinschaft und der Welt zugehörig zu sein. Das tut uns seelisch sehr gut, sagt Rosa.
Drüben, im städtischen Teil von Lourdes, geht währenddessen das normale Leben der Bewohner seinen Gang. Früher betrieben sie Viehzucht. Arbeiter in den vielen Bergwerken der Gegend schlugen den für diese Region bekannten schwarzen Schiefer aus den Felsen, der auch die meisten Hausdächer von Lourdes deckt. Im nächsten Jahr jähren sich die Erscheinungen von Bernadette Soubirons zum 150. Mal. Heute ist die ansonsten unspektakuläre Stadt an der Gave für Pilger wie Johann und Rosa gleichzeitig Begegnungsstätte mit dem Jenseits und Ort mit therapeutischer Kraft, an dem sie für die Veränderung ihrer oder der Lebenslage anderer beten können, deren Beseitigung außerhalb ihres eigenen Machtbereichs liegt.
Selbst wenn Wunder nicht einträfen, ändere sich für viele Menschen etwas nach ihrem Besuch in Lourdes, sagt Dr. Theillier. Bleibt ein persönlicher Heilungserfolg aus, so nähmen viele dennoch die tröstende Erfahrung mit, daß auch andere Leidende nicht geheilt werden können. Die Versöhnung mit sich und der eigenen Biografie setzt Heilungsprozesse in Gang, die Berge versetzen kann, sagt er und beendet das Gespräch auf wunderliche Weise
Für dieses Jahr hat Dr. Theillier tatsächlich noch ein Wunder angekündigt. Ein weiterer Mensch sei auf unerklärliche Weise geheilt, dessen Namen und Krankheit er noch nicht nennen will.