„Gott wohnt immer auf deinem Misthaufen.“

Interview mit dem TV-Theologen Jürgen Fliege über den Begriff Vertrauen aus christlicher Sicht.

Herr Fliege, als Sie heute Morgen aufgestanden sind, was gab Ihnen das Vertrauen, daß sie am heutigen Abend noch am Leben sein werden?
Nichts.

Beten Sie nicht am Morgen um Gottes Vertrauen, dafür, dass er Sie tagsüber begleitet und am Abend nach Hause bringt?
Nein, nie. Ich bete nur am Abend. Wenn die Dunkelheit kommt lassen wir Menschen los und wenn der Schlaf uns endgültig übermannt, legen wir auch die letzte Kompetenz ab. Jeder Abend zwingt uns dies zu tun. Das Leben verlangt es von uns. Darum bete ich abends, gebe mich dem Schlaf hin. Das Gebet ist ein Ritual, um Ängste, Kontrollmechanismen und Neurosen, die wir alle haben, zu überwinden.

Wissenschaftler haben herausgefunden, wer religiös ist, wird älter. Das beste Anti-Aging-Programm überhaupt ist also die Religion, egal welche. Woran liegt das?
Wer sich Gott hingeben kann, dessen Herz kollabiert scheinbar nicht so schnell. Wer sich am Abend ergibt, wie ich es tue, der sagt, diesen Tag gebe ich in Gottes Hände, der sagt, ich kuschel mich in das weiche Fleisch meiner Frau, der sagt, ich gehe zurück in die Fruchtblase meiner Mutter. Das sind Urhaltungen von Aufgabe und Hingabe. Menschen also, die religiös sind, sind in der Lage sich hinzugeben. Wer sich hingibt, besitzt Vertrauen und Glauben. Wer vertraut und glaubt, wird älter.

Brauchen wir notwendigerweise Glauben, müssen wir also in Gott vertrauen, um unseren Alltag zu meistern?
Nein. Für unseren Alltag brauchen wir bloß einen gut geführten Terminkalender. Unser Alltag ist automatisiert, auf Funktionalismus ausgerichtet. Da verlassen wir uns auf Rituale.

Welche Rituale?
Ein Ritual ist eine im Unterbewußtsein wirkende Heimat und somit Gefahrlosigkeit signalisierende Wiederholung. Darauf vertrauen wir, wenn wir ins Auto steigen, Arbeiten gehen, Freunde treffen. Wir schnüren uns auf immer die selbe Weise die Schuhe, wir essen immer zur gleichen Zeit zu Mittag, wir haben ein Ritual beim morgendlichen Aufstehen – den Tag zu beginnen. Warum? Weil Rituale uns Gewissheit und Sicherheit geben.

In welchen Momenten benötigen wir Gewissheit und Sicherheit?
Solange es gut läuft, brauchen wir keine göttliche Führung, keinen Trost. Haben sie aber ein Gefühl des Unbehagens, hilft es, wenn da jemand ist, der ihnen seine sanfte Hand auf die Stirn legt und ihnen die Angst nimmt. Da unterscheiden wir uns Erwachsene nicht von Kindern. In gewisser Weise erscheint uns dann Nina Ruge und sagt: Alles wird gut.

Nina Ruge, die Göttin des Vertrauens?
Na ja, etwas verkürzt. Gottvertrauen zu haben, bedeutet, sich Kraft von außen zu holen. Die brauchen sie nur in bestimmten Momenten, wenn sie Angst haben und sich rückkoppeln müssen. Denken sie an Martin Luther. Er sagt: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ Sie haben also eine Aufgabe, der fühlen sie sich nicht gewachsen. Ist sie zu groß, sind sie aber zu schwach. In einem solchen Moment suchen Menschen nach Rückkopplungen, sie benötigen Hilfe, Kraft, ein großes Rückgrat. Und das holen sie sich dann.

Gottvertrauen bedeutet also nicht, leichtsinning über den Bodensee zu gehen oder in ein Flugzeug zu steigen und die Verantwortung für sein Leben dem Piloten in die Hand zu geben.
Nein. Gottvertrauen sammelt man immer dann im Leben an, wenn man schwierige Situationen gemeistert hat. Irgendwann haben sie die Gewissheit, Gott wird ihnen auch beim nächsten mal beistehen. Sie sind in der Lage umso leichter den schweren Weg zu gehen. Gottvertrauen ist gesammeltes Vertrauen. Das ist nichts, was man von Geburt an mitbekommt.

Was ist der Unterschied zwischen Gott- und Urvertrauen?
Urvertrauen bekommen Menschen von ihren Eltern mit. Die Mutter stillt das Kind; sie ist da, wenn es schreit; sie pflegt es, streichelt es, pudert es. Das Kind muss sich nicht fürchten. Zumindest erst einmal nicht.

Erst einmal nicht?
Sein Urvertrauen wird auf dem Weg ins Erwachsenenland zerstört. Während das Kind erwachsen wird, trainiert das Leben ihm das Urvertrauen ab. Als Erwachsener lebt er ein kontrolliertes Leben. Er hat auch keine andere Wahl: sein Verstand wächst und also muss er ihn kontrollieren. Am Ende des Lebens aber wird sich zeigen, dass die Sache mit der Kontrolle über sein Leben ein Trug war. Wenn dieser Mensch achtzig Jahre alt ist, wird er zurückschauen und entdecken, warum ein Mosaiksteinchen seines Lebens in das andere passt. Er wird feststellen, dass auch in Zeiten, als er glaubte ,in voller geistiger und körperlicher Blüte, seinen Weg selbstbestimmt gegangen zu sein, seine Kontrolle über sein Dasein in Gottes Hand lag. Also in der Hand des Lebens selbst.

Sie meinen, wir haben nur minimalen Einfluss über unser Leben?
Wenn überhaupt, sagt Luther, der Reformator.

Und was sagen Sie?
Ich bin des Reformators Meinung. Ich bin der Islamist unter den Protestanten. Kismet, Kismet, sagt der. Schicksal, Schicksal.

Sie sind ein Fatalist.
Was heißt Fatalist? Ein Fatalist gibt alles aus der Hand. Ich bin mir bewusst, dass alles, was ich in meinen Händen halte, Gottes Gabe ist. Der Protestant sagt, dein Leben ist Gnade, die Sonne geht auf und wieder unter, ob du etwas Gutes oder Schlechtes getan hast, interessiert die Sonne nicht. Das System des Lebens interessiert sich nicht für deine kleine, spießige Moral. Das interessiert das Leben nicht. Das Leben marschiert mit Dir. Und du hast eine einzige Möglichkeit neben den Ergüssen von Marx, Freud, Luther oder anderen Schlauköpfen unserer Zivilisation nur eines zu lernen: nämlich „Danke“ zu sagen. Sonst kannst Du gar nichts lernen im Leben. Dafür ist diese Reise da. Das ist nicht fatalistisch.

Wenn es so einfach wäre, warum haben die meisten Menschen dann Angst? Angst um ihre Existenz, Angst vor der Zukunft, Angst vor sich selbst?
Die Angst vieler Menschen beruht nicht auf der Religionslosigkeit der Gesellschaft, sondern ist in unserer Sozialität begründet. Je mehr wir Menschen uns in die Individualität zurückziehen, desto größer wird die Angst des einzelnen vor dem anderen. Unsere Singlegesellschaft widerspricht der Jahrtausende alten Sozialisation des Menschen.

Sie meinen, wir haben vergessen, dass wir Herdentiere sind.
Ja. Menschen fühlen sich sicher, wenn sie in Rudeln auftreten. Sie brauchen weniger Wärme, sie benötigen weniger Identitätsprüfungen, sie haben weniger Außenkante, wenn sie als Herde zusammenstehen. Sie müssen sich nicht ständig fragen: Wer bin ich? Wohin gehe ich? Mache ich alles richtig? Die Antworten auf diese Fragen werden durch Plausibilität abgelöst. In einer Gruppe ist vieles plausibel, weil viele das selbe sind und tun. Ein Schaf, das allein über das Feld geht, muss sich vor dem Wolf fürchten. Das Schaf, das in der Herde ist, sieht ihn gar nicht.

Wir sind eine in Auflösung begriffene Herde und deswegen nimmt die Angst in unserer Gesellschaft zu.
Schauen Sie sich etwa die Generation der Thirty-Somethings an: die ist mit dem Ideal der Individualisierung sozialisiert worden, was gewissermaßen als Gegenserum zu den kollektiven Auswüchsen in der deutschen Geschichte wirken sollte. Das ist auch gut so. Was man aber vergessen hat ihnen mitzugeben, sind spirituelle Techniken, mit denen sie zu einem gesunden Kollektivismus zurückfinden können. Sie haben kein Vertrauen in den „Massenmenschen“, weil sie fürchten darin unterzugehen, ein Hordentier zu sein – nicht als Gotteswesen erkannt zu werden.

Dazu haben sie auch allen Grund: Mit Kollektiven verstrickt zu sein, bedeutet auch, sich der Gefahr der Manipulation hinzugeben.
Ja. Diese Leute übersehen aber, dass sie auch als Individuum in einer Egogesellschaft ständig manipuliert werden. Man ist doch nicht deswegen rein, wenn man morgens aufsteht, nur weil man nicht Teil von sonst wie gearteten Kollektiven ist. Wir sind sinnliche Wesen und deswegen sind wir immer der Gefahr ausgesetzt, instrumentalisiert, beeinflusst, fremdgelenkt zu werden.

Sollten wir vereinsamten Kreaturen nun alle in die Kirche?
Nein. Da bekommen sie es nicht beigebracht. Wenn etwa zu Weihnachten Menschen in die Kirche gehen, die es sonst nicht tun, werden die von Predigern oft noch dafür verurteilt, dass sie nur zum Tag von Christi Geburt kommen und sonst nie. Weihnachten aber ist die beste Gelegenheit, die Fremdheit zwischen den Menschen aufzulösen, Vertrauen zu schaffen und Ängste zu lösen.

Wie beseitigt man Angst?
Indem wir Schwierigkeiten annehmen, die uns fremd sind. Krankheiten, Feinde, unangenehme Situationen, Fehler – alles, was uns Angst macht, uns an schmerzhafte Grenzen führt, vermeiden wir, weil wir uns davor fürchten. Dabei ist völlig klar: Wo die Angst ist, ist der Weg. Und Gott wohnt immer auf deinem Misthaufen.