Schreibend brennt er sein Leben herunter, wie die Zigaretten, die er pausenlos in seine geteerten Lungen inhaliert. Porträt des Schriftstellers Feridun Zaimoglu. Für Stern Biografie, 2004.
Feridun Zaimoglu steckt sich eine Marlboro Menthol an. Der Minzgeschmack gibt einem Kettenraucher wie ihm das Gefühl, er lüfte seine verseuchten Bronchien aus. Es ist Samstagnacht, 3 Uhr 46. Der Schriftsteller wird von einem Fahrservice von Frankfurt am Main, wo er am Abend zuvor eine Lesung gehalten hat, über Nacht nach Sylt gefahren. Der Fahrer hat an einer Autobahnraststätte irgendwo zwischen Bremen und Hamburg gehalten. Frühstückszeit. Zaimoglu kauft drei Schachteln Zigaretten, drei Tageszeitungen, einen Kaffee, eine Flasche Hohes C, 0,75 Liter. Die Flasche Saft leert er in drei Zügen. Dann wirft er eine Tablette gegen den Kopfschmerz ein. Der überrfällt ihn, seit er zuviel arbeitet, zuviel reist, zuviel raucht.
In Rantum wird der Sohn türkischer Einwanderer am nächsten Morgen ein Medley seiner Texte zum Besten geben. Danach geht es kurz nach Kiel, dort wohnt er. Später nach München zur Premiere seiner Fassung von Shakespeares „Othello“ in den Kammerspielen. Dann zu seiner zweiten Theaterpremiere in dieser Woche nach Frankfurt. Von dort zu Lesungen nach Berlin, Hamburg, Göttingen, Münster und zwischendurch nach Klagenfurt. Er wurde in diesem Jahr für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert.
Sieben Bücher hat er in den letzten acht Jahren geschrieben. Darunter „Kanak Sprak“ und „Abschaum“, durch die er berühmt geworden ist. In ihnen erzählt er Geschichten aus dem Soziotop von jungen Migranten. Dazu Theaterstücke, Drehbücher, Kolumnen, Reportagen und Essays. Rund 700 Lesungen wird er am Ende dieses Jahres insgesamt gegeben haben. Die unzähligen Symposien, Podiumsdiskussionen, Interviews und Talkshows nicht mitgerechnet.
Er sagt, wäre er in der Türkei aufgewachsen, wäre er heute vielleicht ein Spießer, einer mit Frau, Kind, Auto und Hund und sein Haus wäre nicht so verstaubt wie seine Kieler Wohnung, in der er kaum lebt, weil er meist in Hotels, Zügen oder Autos haust. In Deutschland aber käme ihm sein Leben zuweilen vor, als kämpfe er Tag für Tag einen Kampf, den nicht er selbst entfacht hat. Denn die Geschichte von Feridun Zaimoglu ist die Geschichte des Gastarbeiterethos mit anderen Mitteln. Im Juli 1965 landeten er und seine Eltern in einem mit türkischen Emigranten überfüllten Sonderzug in München. Feridun Zaimoglu war ein Jahr alt. Er wurde 1964 im anatolischen Bolu geboren, in einer unversehrten Fruchtblase. Krankenhauspersonal und Patienten hätten sich um deren Haut gerissen, um sie an ihren Amuletten gegen den Bösen Blick tragen zu können, haben ihm seine Eltern später erzählt. Sie gaben ihm den Namen: „Der Einzigartige von Gott auserwählte“, Feridun Zaimoglu.
Seine Eltern siezt Zaimoglu bis heute. Aus Respekt begrüßt er sie nie sitzend, immer stehend und mit Wangenküssen. Heute leben sie eine Hälfte des Jahres in Ankara, die andere in Artur, einem Ort an der türkischen Westküste. Eine kleine Rente hält sie über Wasser. Der Vater ist Angehöriger der dritten Generation von Balkanflüchtlingen, die nach der Weltkriegsniederlage und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches in das türkische Kernland zog. Seine Karriere als Fremdarbeiter in Deutschland begann er als Ledergerber. Zaimoglu erinnert sich, wie sein Vater Abend für Abend nach der Arbeit sich den Geruch der Gerbermittel von der Haut schrubben mußte, bevor er sich im Anzug auf die Straße traute. Seine Mutter ist eine aus dem Kaukasus stammende Tscherkessin. Sie widmete sich der Hausarbeit und der bezahlten Maloche in den verschiedenen Auffanglagern, die die Familie zu Beginn ihrer Migration bewohnte.
Zweidrittel aller damals neuangeworbenen Gastarbeiter lebten in Gemeinschaftsunterkünften. Die Zaimoglus gehörten mit Tausenden anderer Ankömmlingen zu soetwas wie dem neuen deutschen Subproletariat. Als schlecht ausgebildete Hilfsarbeiter sollten sie die fehlende deutschen Arbeitskräfte in den unteren Bereichen der Arbeitshierarchie ersetzen. Ihre Barackenlager waren von einem Zaun umgeben.
26 mal sind die Zaimoglus umgezogen. Von München nach Bonn nach Berlin ins Ruhrgebiet nach sonstwohin; von Baracke zu Kabuff zu Wohnzelle und irgendwann endlich in eine eigene Wohnung, in der sie Küche, Duschzelle und Toilette mit niemandem mehr teilen mußten. „Meine Eltern haben sich kaputtgearbeitet, um nie wieder zu den Barackenverhältnissen zurückzukehren, aus denen wir kamen,“ sagt Zaimoglu.
Es ist als triebe die Angst seiner Eltern vor dem Abstieg ins nichts Feridun Zaimoglu bis heute an. Eine Kavalleriemelodie zerreist das monotone Rauschen der Autofahrt. Sein Handy klingelt nicht. Es trompetet. Er führt das Telefon zum Ohr und eine gummierte, schwarze Sportuhr der Marke Nike erscheint unter seinem Ärmelbund. Sie unterscheidet sich von normalen Uhren durch dieses große digitale Schriftbild. Ist er in Eile, könne er so die Uhrzeit schneller erfassen, sagt er später. Das erleichtere den Vergleich mit dem Ziffernsystem der Zeittafeln auf Bahnhöfen und Flughäfen.
Seine Lebensgefährtin ist am Telefon, eine Journalistin. Wenn sie ihn im Laufe einer Lesetour anruft, erreicht sie ihn meist auf seiner Fahrt von einem ins nächste Funkloch. Zaimoglu reist mit zwei Taschen. Seine wichtigsten Gepäckstücke sind die Bücher, aus denen er liest, Notizhefte, in die er schreibt, ein halbes Kilogramm Silberschmuck, schwarze Kleidung, ein Reisewecker und der Elektrorasierer, mit dem er sich jeden Morgen seinen ritterlichen Bart stutzt.
Wer ihn einige Tage begleitet, möchte man zuweilen seinen Antrieb drosseln, ihn zum Stillstand bringen, weil man fürchtet, er würde irgendwann bersten. Zaimoglu aber, die Kampfmaschine, ist die Fortentwicklung des Gastarbeiter-Prototypen: mit enormer Disziplin und Ausdauer ausgestattet wie die Pioniergeneration. Aber mit einem wesentlichen Unterschied: anders als seine Eltern, verdingt er sich nicht.
Als Zaimoglu ein Jugendlicher war, hat sein Vater ihm die Angst davor gestanden, ihm würde eines Tages die Arbeit, die Existenz, sein Leben genommen. Wie Millionen andere wurde er geholt, damit die Trompeten des wirtschaftlichen Vormarsches Deutschlands in der Welt nicht verstummten. Ausgerechnet an ihnen wurde später die Sorge um den Fortgang des Wirtschaftswunders ausgelebt. BILD titelte Schlagzeilen wie diese: „Sind Gastarbeiter fleißiger als Deutsche?“ Unruhig gewordene deutsche Arbeiter versammelten sich in ihren Betrieben und initiierten Warnstreiks gegen die ausländische Konkurrenz. „Du kannst es machen wie wir,“ hat sein Vater ihm also gedroht. „Jeden Drecksjob annehmen, anderen gehorchen, dich demütigen lassen und so deine Existenz sichern.“ Besser aber sei zu studieren. Damals galten Akademiker noch was.
Feridun Zaimoglu verstand nicht viel von dem, was sein Vater ihm riet. Als Pubertierender führte er ein reptilienhaftes Dasein. Sein Gesicht glich einem Tomatenfeld, sagt er. Er war so lange, so stark verpickelt, daß er sich erst mit 23 Jahren an seine erste Frau wagte. Während Freunde und Bekannte Zukunftspläne schmiedeten, ins Ausland gingen und studierten, stand er unbeteiligt herum und fotografierte die Welt mit seinen Augen, er sagt: „Ich sammelte Bilder.“ Und was er durch seine Linse sah, waren Sprößlinge von Einwanderern wie er, die als Dealer, Schläger, Zuhälter, Huren, Hehler oder Junkies endeten, weil sie bei dem Rennen um die Plätze an der Sonne, keinen Zugang zu Bildung und Arbeit bekamen. In dieser Zeit füllte er sich randvoll mit Geschichten an, die sich später in seinen Büchern entladen sollten.
Er zeigt seine rechte Faust im Lichtpegel der Leselampe im Auto, ein wenig wie ein Trophäe aus jener Zeit als er, wie er sagt, zwar mit „Halunken und Rabauken“ herumhing, sich aber zunehmend politisierte: 1989 taucht in einer Meldung der „taz“ ein gewisser Kunst- und Medizinstudent auf, der durch einen Hungerstreik die Ausweisung von Roma und Sinti verhindern will. Damals war es das Größte für diese Burschen ihre neu erlernten Kickboxtritte an Kaugummiautomaten zu testen, um sie im Ernstfall anwenden zu können: In den Großstädten schossen sich in den 80er Jahren Banden von jugendlichen Migranten wie die Pilze aus dem Boden. Sie rüsteten auf gegen die Anfeindungen Rechtsradikaler. Wie gesagt, er zeigt seine Faust, er sagt nichts dazu, die Faust allein soll erzählen: die Knochen von Zeige- und Mittelfinger auf dem Handrücken sind gebrochen. Irgendjemandem, das soll sein Schweigen bedeuten, hat diese Faust einmal die Nase zermalmt, das Kinn zerlegt oder das Jochbein zertrümmert.
Welche seiner Geschichten echt sind und welche erfunden, weiß nur er. Wahr ist jedenfalls, sie klingen so gut, daß das „Zeit-Magazin“ ihn zum „Malcolm X“ der Türken in Deutschland kürte, obwohl viele derer ihn gar nicht kennen, oder ihn gar verachtet, weil sie glauben, Zaimoglu ruiniere mit seiner Großmäuligkeit den Ruf der Türken hierzulande. Andere nennen ihn einen „Pseudo-Revoluzzer“, weil er in seinen Büchern einen Widerstand von Migranten inszeniert, den es in Wirklichkeit nicht gibt, jedenfalls keinen lauten und sichtbaren. „Literatur,“ sagte er, als wir uns Wochen vor der Autofahrt nach Sylt zu einem Vorgespräch in seiner Wohnung treffen, „ist kunstvoll verfasster Lug und Trug und Beschiss – mehr oder weniger erfundene Geschichten.“
Was Journalisten als Vorgespräche bezeichnen, sind für Zaimoglu Tarifverhandlungen: Wir sitzen in der Küche seines Drei-Zimmer-Apparements. Der Stil seiner Wohnung ist eine Mischung aus orientalischem Bordell und Studentenbude: Spiegelwände. Kelimteppiche. Postkarten von Pinup-Girls. Eine Küchenuhr von Galatasaray Istanbul. Amulette gegen den bösen Blick. Überbordende Aschenbecher. Aspirin im Kühlschrank. Buchstapel allerorten. Eine Zwergensammlung. Familienfotos. Filmplakate. Musikkassetten. Postberge. Staub. Und irgendwo dazwischen eine AEG Olympia, Typ Carrera SI, seine Schreibmaschine. Am PC wurde er geschwätzig, weil er Wörter, Sätze, ganze Absätze ausschneiden und Seiten umbauen konnte. Seine Schreibmaschine hingegen zwingt ihn zu einem antizipativen Lektorat, bevor er seine Gedanken zu Papier bringt. Sie hat einen schnellen Anschlag und eine Korrekturtaste. Das genügt.
Er schreibt wie er redet und er redet wie gedruckt: Er werde einen Teufel tun, und eindeutige Koordinaten für die Erstellung seines Psychogramms geben. Denn was wäre schon damit gewonnen? Da würde festgestellt, was sowieso jeder zu wissen meint: da ist ein Junge von seinen türkischen Eltern gewissermaßen als Geisel nach Deutschland verschleppt worden. Hier ist er nicht mit den Milieus vertraut. Er wird eine haßerfüllte Kreatur, weil er seinen Platz in der Gesellschaft nicht findet. Alle wüsten Affekte in seinen Büchern werden in der ethnischen Wurzel des Autors gebündelt. Dort, wird man meinen, sei die Brut für seinen Zorn. Leuten aber, die der Vorstellung nachhängen, man könne die Identität eines Menschen aus seiner ethnischen Herkunft ableiten, empfiehlt Zaimoglu, sich Poppertürken an einer Wirtschaftsfakultät auszugucken und zu fragen, was die wohl vom Leben erwarten. „Die sehnen sich nach ’nem guten Job, ’ner schmucken Frau, ’nem coolen Auto, eben all dem Zeug, das sich jeder Normalverbraucher auch wünscht.“ Das seien normale Kleinbürger.
Die säuische Wut, die ihm diese Zornesfalte in die Stirn getrieben hat, sie überkommt ihn nicht mehr so häufig wie früher, doch oft genug noch, solange sich die deutsche Wirklichkeit nicht ändert: manchmal, wenn die Nacht sich wie ein dunkles Laken über die Welt gelegt hat und andere Menschen schlafen, sitzt er noch wach auf der Bettkante und läßt in Gedanken Fluch und Verdammnis in deren Träume herabregnen, die er für Rassisten hält. Ronald Koch zum Beispiel.
Als der Schriftsteller und der Ministerpräsident in der Talkshow von Johannes B. Kerner zu Gast waren, mußte die Redaktion Zaimoglu hinter den Kulissen bitten, dem Politiker während der Aufzeichnung die Hand zur Begrüßung zu reichen, weil Zaimoglu sich weigerte. In Koch sehen viele Migranten, nicht nur Zaimoglu, seit seiner 1998 initiierten Unterschriftenaktion gegen das Gesetz zur Doppelten Staatsbürgerschaft, einen Ausländerfeind. Seiner guten osmanischen Erziehung wegen, tat Zaimoglu das, was die Redaktion wünschte. Als dann der Showmaster irgendwann die leidige Frage nach seiner Herkunft und Identität stellte, antwortete Zaimoglu wie selbstverständlich: „Ich bin Deutscher.“ Zaimoglu hatte Koch die Waffen genommen.
Menschen wie dem Ministerpräsidenten stelle er sich gern, sagt Zaimoglu. Den Osten des Landes aber meidet er zunehmend seit er auf der Anti-Antifa-Liste der Rechtsradikalen steht, einer Liste von Personen, die gewissermaßen für vogelfrei erklärt wurden. Er wollte den örtlichen Veranstaltern nicht mehr erklären müssen, er reise nicht mit dem Zug an, sondern mit dem Auto und tanke schon in Westdeutschland voll, um keinen Stop im Osten machen zu müssen, weil hinter Lübeck die nationalbefreiten Zonen beginnen. Auch hatte er während seiner Lesetouren in den neuen Ländern keine Lust mehr nachts einen Plastikeimer voller Wasser an sein Hotelbett zu stellen, weil er nicht wußte, welche Geschosse durchs Fenster hereinfliegen. Sylt ist da friedlicher.
Es ist 9 Uhr 30. Bahnhof Niebüll. Zaimoglu hat im Auto noch kurz geschlafen. Er schnarcht. Die Polypen. Er wird in der „Syltquelle“ in Rantum zu einer Lesung erwartet. Vor einigen Monaten war er schon einmal Gast dort. Damals verloren sich exakt sechs zahlende Gäste im Saal. Drei davon gingen vorzeitig. Heute aber ist Festtag, denn er wird vor vollbesetztem Saal als der diesjährige Inselschreiber des beliebtesten deutschen Eilandes präsentiert. Danach wird er sich schlafen legen, wie immer auf Reisen, nur kurz. Dann gehts weiter zu Lesungen und wie gesagt zum Lesewettbewerb nach Klagenfurt. Er wird nicht den „Ingeborg-Bachmann-Preis“ erhalten, aber immerhin den „Preis der Jury“.
Wenn das seine stolze Mutter erfährt, wird sie vielleicht wieder diesen Satz sagen, den sie aussprach, als sie das erste Mal eine seiner ausverkauften Lesungen besuchte: „Früher mußten wir ihnen gehorchen. Heute hören sie dir zu.“