DER KIEZ STIRBT, MAL WIEDER

Metamorphosen des Hamburger Amüsierviertels St. Pauli. Erschienen in Du, Schweiz, 2006.

St. Pauli wird gerade umgepflügt, der Bauwahn greift hier um sich. Es scheint als wollten die Stadtoberen die sündige Meile trockenlegen wie einen Sumpf. Sie mauern den Kiez langsam ein. Am Millertorplatz ragt dieses mächtige Bürohaus, dass den Beginn den Wandels auf dem Kiez vor zehn Jahren eingeläutet hatte. Gerade entstehen auf dem ehemaligen Werksgelände der Astra-Brauerei Hotels, Bürohäuser, Eigentumswohnungen. Nicht weit von St. Pauli wird das Messegelände in das Schanzenviertel erweitert. In der Speicherstadt baut der Oberbaudirektor die Hafencity. Eine Anzeigenkampagne kündigt an Bushaltestellen die neue Elbphilharmonie an. Sie soll Hamburgs neues Wahrzeichen werden. Im internationalen Wettbewerb der Metropolen stellt sich Hamburg als Marke neu auf. Natürlich stinkt die ganze Sache zum Himmel.

Ich sitze in einem alten, holzgetäfelten Barbiersalon in der Davidstraße und lasse mir meinen Bart rasieren. Kaum ein anderer Friseur macht das noch in der Stadt. Danach falle ich auf dem Weg in die benachbarte Kneipe „Anno 1906” einer Hure in die Arme und sie zwitschert ihr Sprüchlein: „Komm mal mit!” Ich schaue sie an und sie sieht sofort, der Typ ist aus der Gegend und lässt mich ziehen. Der Kneipier vom „1906” berichtet von kaputten Typen, die sich hier seit Jahrzehnten Abend für Abend ihre Lebenslast von den Schultern trinken und von dem Ärger, den ein Gast hier neulich angezettelt hat, als er einer Hure Gott weiß warum in den Hintern getreten hat und dann in die Kneipe geflüchtet war. Dieser Idiot. Die Zuhälter haben ihn rausgeholt und vor versammelter Damenriege in der Davidstraße geohrfeigt, in den Bordstein geworfen und ihn dort liegen gelassen wie ein Stück Scheiße. Nichts hat sich auf dem Kiez geändert.

Als ich zum ersten Mal in einen Klub auf die Reeperbahn ging, war ich 14. Heute hat der Musiksaal Docks dort seine Räume. 1979 war das eine Diskothek, die jugendliche Einwanderer besuchten. Sie hatten die Sitzparzellen feinsäuberlich nach nationalen Territorien unter sich aufgeteilt. Links neben der Bühne: die Türken. Gegenüber: die Jugoslawen. Davor: die Italiener, Spanier und Griechen. Die billigen Plätze zum Eingang waren für Nationalitäten, deren Mitglieder in eindeutiger Unterzahl waren. Minderheiten unter Minderheiten. Deutsche trauten sich hier nicht hinein, keine Ahnung warum.

Aus diesem Club rekrutierten sich zwei stadtbekannte Gangs, die Sparks und die Streetboys. Die Mitglieder trugen Namen wie Sharam, Costa, Karim, Siri oder Atillio. Sie waren Perser, Griechen, Agypter, Türken oder Italiener. Aus einigen von ihnen wurden Heiermannluden, kleine, unbedeutende Zuhälter. „Heiermann” ist Hamburger Slang und bedeutet „Fünf-Mark-Stück”. Andere von ihnen landeten irgendwann im Knast oder setzten sich nach Südamerika ab, weil sie das Regelwerk des Kiez’ nicht einhielten. Die Stars der 80er Jahre auf St. Pauli waren die Köpfe der großen Syndicate Nutella und GMBH, der schöne Klaus, Albaner Tony und Kalle Schwennsen.

1983 übernahm Jörg Immendorff die Traditionskneipe „La Paloma” auf dem Hans-Albers-Platz, in der sich Maler, Musiker, Kulturlinke und Studenten besoffen. Mit ihnen begann der Wandel des Kneipenkarrees auf dem Kiez. Alte Puffs wurden zu Soulbars, Hafenkneipen zu Houseclubs. Die Häuser in der Hafenstraße waren seit 1981 von Neo-Marxisten und Anarchisten besetzt. Im Störtebeker fanden Punk-Konzerte statt. Heute haben die Leute dort offizielle Mietverträge, was für eine Karriere. Auf dem Spielbudenplatz mitten auf der Reeperbahn standen damals ein paar als Buden umfunktionierte Discotheken, die im Laufe der Jahre von Dealern eingenommen wurden. Bis zum Sommer soll auf diesem Gelände eine große Freilichtbühne gebaut worden sein. Das italienische Restaurant Cuneo in der Davidstraße war damals ein Treff italienischer Einwanderer, die im Keller Karten spielten. Später wurden hier Prominente bewirtet. Hätte ich meinen Streifzug von heute, in den 80ern gemacht und einen alteingesessenen St. Paulianer gefragt, ich wette drauf, der hätte gesagt: „Der Kiez stirbt gerade.”

70 Prozent auf St. Pauli haben bei der letzten Bundestagswahl rot-grün gewählt. Daran hat sich nichts geändert. St. Pauli bleibt ein rotes Quartier. Ein Arbeiterviertel ist es aber nicht mehr. Wo Arbeiter leben, ziehen Einwanderer hinzu. Sind die da, kommen die Alternativen und Kulturlinken nach. Die wiederum bringen die Bourgeoisen mit. Die Hedonisten ziehen hinterher, dann die Bildungsbürger und so weiter. Am Ende denkt sich irgendein Politiker im Senat, das mittlerweile attraktive Viertel benötige einen Anstrich um Geld ins Viertel zu bekommen, das nennt sich Gentrification.

Es ist die Zeit des Ausverkaufs auf St. Pauli. Was früher hier Amüsement genannt wurde, heißt heute Entertainment. Die neuen Kieze in Hamburg stehen bereit. Es sind die Veddel Rothenburgsort und der alte Kattwickhafen, alles Hafen-, Arbeiter- und Einwandererquartiere. Die Kunstszene besetzt dort bereits erste Reviere.

In dem Giebel der berühmtesten Polizeiwache Deutschlands funktioniert nach Jahren des Stillstands die Uhr wieder. Der Kiez wird geschminkt. Entleiben kann man ihn nicht.