Der Kapitalismus beginnt in der eigenen Familie

Unternehmer, Aristokrat, Frauentyp: Gianni Angnelli war eine der illustren Figuren des aufteigenden Italiens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Januar 2003 ist er im Alter von 81 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

Nur einmal hatte er zuletzt seine Residenz in Villar Perosa bei Turin verlassen. Wie immer, wenn seine Familie vom Schicksal heimgesucht wurde, verschloss sich der mächtigste Clan Italiens auch jetzt der Außenwelt. Ihr Patriarch Giovanni Agnelli, genannt Gianni, war an Prostatakrebs erkrankt.

Über einhundert Jahre hat seine Familie die wirtschaftlichen und politischen Geschicke Italiens geprägt wie keine andere. Giannis Großvater, der Kavallerieoffizier Giovanni Agnelli, war Sohn eines Vieh- und Seidenraupenzüchters. Er besuchte die Militärakademie von Modena. Mit seiner Entlassung als Oberleutnant stieg seine Familie von der Schicht der Großgrundbesitzer in die Militärkaste auf.

1899 gründete er das Automobilunternehmen FIAT. Etwa 100 Autos gab es zu dieser Zeit in Turin. Die Hauptstadt des Piemonts kristallisierte sich zunehmend als das industrielle Herz Italiens heraus. Das Caffè Burello, das an der Ecke Corso Vittorio Emanuele und der Via Rattazzi lag, war Treffpunkt der Bourgeoisie. Dort präsentierte sie stolz ihre Fahrzeuge, rauchte Zigarillos und diskutierte über Chassis, Motoren und Karrosserien. Auch Agnelli war darunter.

Nicht unweit wohnte eine andere Familie, die die italienische Automobilgeschichte prägen sollte. Vincenzo Lancia war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt. Seine Familie wohnte direkt am Corso Vittorio Emanuele und auch er sah diese merkwürdigen Kisten vorbeifahren. Er war begeistert von ihnen. Sein Vater weniger. Der hatte für Vincenzo andere Pläne. Enzo sollte Anwalt werden. Lieber als in dem Internat trieb der sich allerdings in der benachbarten Werkstatt der Brüder Ceraino herum. Die bauten erst Fahrräder der Marke „Welleyes“. 1899 fanden sie dann einen Sponsor, der ihnen ermöglichte, ihr erstes Automobil zu konstruieren. Mit der Einwilligung der Eltern durfte Vincenzo dort bald mitarbeiten, als Buchhalter.

Das sogenannte Welleyes-Auto der Brüder Ceraino war erfolgreich, doch ihre Werkstatt zu klein, um die Aufträge zu bewältigen. Statt zu expandieren, verkauften sie für 30.000 Lire Firmenausstattung und alle Patente an den Fiat-Chef Giovanni Agnelli. Vincenzo Lancia wurde als Testpilot von Fiat übernommen. Er machte sich einen Namen als erfolgreicher und stürmischer Pilot, bevor er 1906 seine eigene Autofabrik eröffnete. Im Jahr darauf stellte er seinen ersten Wagen vor, der Lancia 18-24 HP. Von Beginn an setzte Lancia auf Innovation, Design und Eleganz. Lancia baute damals schon seine Autos für einen erlesenen Kundenkreis.

Bald war Giovanni Agnelli der reichste und mächtigste Unternehmer Italiens. FIAT war während beider Weltkriege zum Rüstungs-, Stahl-, Luftfahrt-, Flugzeug-, Schiffs-, U-Boot- und Straßenbauunternehmen avanciert – und dazu der größte Autoherstellers des Landes. Dem Heimatort der Familie stand der Firmengründer bis zu seinem Tod 1945 ununterbrochen als Bürgermeister vor. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm Gianni dieses Amt. Seit dem Tag, an dem ein Agnelli zum ersten Mal Bürgermeister wurde, führte kein Bewohner von Villar Perosa persönlich Steuern an den Staat ab. Die Familie Agnelli bezahlte für alle.

Sie galt nach Ende des II. Weltkriegs als Ersatz für das verlorengegangene Königshaus und Gianni als der ungekrönte König Italiens. Seine Macht, sein Reichtum, sein Glamour machten ihn zu einer Art Führungsfigur für eine neue, aber doch desillusionierte und vaterlose Gesellschaft: der Diktator Mussolini hatte den Krieg verloren und wurde von Partisanen ermordet. Der, der ihn zur Macht verholfen hatte, König Vittorio Emmanuele III., war ins Exil nach Alexandria geflohen.

Unter der Führung der ehemals rechten Hand des Firmengründers, Vittorio Valetta, wurde FIAT zunehmend zu soetwas wie einem „Staat im Staat“. Als Gianni Agnelli 1966 die Präsidentschaft des Unternehmens übernahm, waren 137.000 Mitarbeiter für den Familienkonzern tätig. Für sie ließ er Ferienheime bauen und Kindergärten, er installierte Fortbildungsprogramme und organisierte Beriebsreisen zum französischen Wallfahrtsort Lourdes. Über eine Million Menschen waren direkt abhängig vom Erfolg des Konzerns. Die Agnellis stellten in den Augen zehntausender bei FIAT beschäftigter Väter, soetwas dar wie eine Metafamilie, eine, die wiederum das Überleben ihrer Familien sicherte. Unter den Arbeitern machte deswegen der Slogan die Runde: „Geht es FIAT gut, geht es auch uns gut.“
Der Mann mit dem Caesarenprofil begann zum Mythos zu werden: 1969 führte Gianni Agnelli LANCIA und FIAT zusammen. Das edle Autohaus des ehemaligen Freundes der Familie Agnelli, Vincenzo Lancia, gehört seitdem zur FIAT-Gruppe.

1986 übernahm Gianni Agnelli auch Alfa Romeo. Weil Siegen sein Lebensprogramm war, ahmten Generationen italienischer Männer zunehmend Agnellis Stil nach, weil auch sie ein wenig von dem Glanz ausstrahlen wollten, der ihn ausmachte: im modebesessenen Italien war er der erste, der die aus Amerika von den Brooks Brothers stammenden Button-Down-Hemden trug. Es dauerte nicht lang, bis es kaum noch einen Italiener gab, der seinen Kragen nicht am Hemd festgeknöpft hätte.

In den 60er Jahren wurden ihm Affären mit der Hollywooddiva Rita Hayworth und der Sexbombe Anita Ekberg nachgesagt. Seine Ehefrau, die blaublütige Marella Caracciolo di Castagneto soll unter den Gerüchten der Klatschpresse gelitten haben. Sie blieb dennoch immer an seiner Seite. Neben dem Geld, den Frauen und der Mode gab es noch eine andere Leidenschaft im Leben von Gianni Agnelli. Sie war vielleicht seine Größte: der Sport. Auch hier gab sich der stets rastlose Geschäfts- und Lebemann nie mit Mittelmaß zufrieden. FIAT ist bis heute Hauptsponsor des Formel-1-Weltmeisters Ferrari. Michael Schumacher fährt in der aktuellen Rennsaison ein Modell, das nach Gianni Agnelli benannt worden ist. Dazu ist FIAT Mäzen von Juventus Turin. Zwischen 1946 und 1966 stand Gianni Agnelli selbst dem bis heute erfolgreichsten italienischen Fußballklubs als Präsident vor. Bis ins hohe Alter verfolgte er die Spiele der „Signora“ – wie der Verein in Italien liebevoll genannt wird – von der VIP-Tribüne des „Stadio delle Alpi“.

„Der Kapitalismus,“ hat Gianni Agnelli einmal gesagt, „beginnt in der Familie.“ Sie gebe Sicherheit, stifte Vertrauen und erzeuge produktive Energie. Große Industriellenfamilien wie die Agnellis, Pirellis (Reifen), Montecatinis (Chemie), Edisons (Energie) oder Orlandos (Metallurgie) bildeten lange Zeit die Grundpfeiler des italienischen Familienkapitalismus, der Familienkapitalismus wiederum die Wirbelsäule der italienischen Wirtschaft. Unter allen Unternehmerfamilien gehört die der Agnellis bis heute zu den mächtigsten. Zur Familie zählen etwa 140 Mitglieder. Unter dem Dach des Mischkonzerns FIAT agieren über 1000 Unternehmen in 61 Ländern.

Wie das Leben der Kennedies in den USA jedoch durchziehen nicht nur Erfolge, sondern auch Schicksalsschläge die Geschichte von Gianni Agnelli: Sein Vater stirbt 1935 bei einem Flugzeugunglück, seine Mutter 1945 bei einem Autounfall. 1965 erliegt sein Bruder Giorgio einer ominösen Krankheit. Agnellis Neffe und designierter Nachfolger für das Präsidentenamt bei FIAT, Giovannino, erliegt 1997 einem Magentumor. Und dann, im November 2000, der Supergau: Giannis einziger Sohn, Edoardo, stürzt sich im Alter von 49 Jahren von einer Autobahnbrücke in den Tod.

Seitdem hatte sich Gianni Agnelli nur noch selten in der Öffentlichkeit gezeigt. Seinen letzten medienwirksamen Auftritt hatte er, als Agnelli im Herbst 2002 zur Übergabe einiger wertvoller Gemälde aus der familieneigenen Stiftung an die Turiner Pinakothek auftrat. Es schien, als sei die Zeit nie vergangen. Der Mann mit dem federweißen Haar pflegte auch diesmal seinen eigenwilligen Kleidungsstil, für den er immer bekannt war: der Ehrenpräsident von FIAT trug wie immer Sportschuhe zum Anzug, seine Seidenkrawatte über dem Cashmerepullover, die goldene Uhr über dem Ärmelbund seines Manschettenhemdes.

Gianni Agnelli starb am 24. Januar 2003 im Alter von 81 Jahren in Turin.