Überall in der Welt eröffnen immer bombastischere Aquarien. Im Wettbewerb der Metropolen um Touristen und Umsätze positionieren sich so die Weltstädte als Marken mit Eventgarantie. Hamburg ist mit Hagenbecks Monsteraquarium nachgezogen.
Neulich ist Uwe Richter erneut in der Nacht aufgewacht. Um drei Uhr ist von seiner Wohnung durch die Dunkelheit der Stadt an seinen Arbeitsplatz zu Hagenbecks Tierpark gefahren, um zu prüfen, ob nicht wieder Nachtschnecken die Polypen seiner Korallen fressen. Diese Parasiten seien eine Plage, sagt der gelernte Zierfischzüchter. Mit Taschenlampe und Nioprenanzug ist er in das große Becken gestiegen, vor dem tagsüber die staunenden Zuschauer mit den offenen Mündern stehen, um die Korallen von ihren Peinigern zu befreien. Wie Feiglinge kommen die nur im Schutz der Nacht zum Vorschein und machen einem die Arbeit kaputt, wenn man sie gewähren läßt.
Richter sitzt in diesem Moment, wie er von seiner Nachtfahrt berichtet, auf dem Beckenrand seines Korallenbiotops. Seine scheuen Augen hinter den Brillengläsern wirken zu groß für seinen kleinen Kopf. Der 65jährige Tierfreund ist weitsichtig. Wir befinden uns gewissermaßen im Kulissenraum seines Korallenbeckens, auf der anderen Seite der Sichtscheibe also, vor der normalerweise die Besucher stehen. Draußen regnet es gerade in Strömen. Hier unten in der künstlich angelegten Höhlenformation, in dessen Innereien Hagenbeck seine Aquarien eingebettet hat, ist es feucht und warm. Ende des Jahres wird Richter pensioniert. Der Generationswechsel steht an. Jahrelang war er Leiter des alten Tropariums, auf dessen Gelände nun die neue Attraktion des Hauses Hagenbeck steht. Die Meeresbiologin Andrea Sassenberg, 28, soll das Tropenaquarium leiten.
Richters Korallenbiotop ist darin eines von insgesamt 19 Becken. Insgesamt beheimatet das Gelände 13.000 Tiere von 290 Tierarten, darunter tropische Fische aus dem Indischen Ozean wie Clownfische, Hammerhaie oder Piranhas, aber auch Tiere aus dem subtropischen Urwald wie Flughunde, Anakondas und Krokodile. Seit 1961 arbeitet Richter im Hamburger Tierpark. Er sagt, wenn die Korallen tatsächlich auf den aus Beton nachgebauten Felsimitaten des Aquariums anwüchsen, wäre das sein Meisterstück. Nicht jedem Aquarianer in der Welt gelingt dies, obwohl in den Großaquarien immer größerer technologischer Aufwand betrieben werde.
Seit 1990 haben nach Angaben des Internationalen Weltverbands der Zoos und Aquarien (WAZA) weltweit rund 125 Riesenaquarien wie das von Hagenbeck eröffnet. Jede Stadt der Welt, die etwas auf sich hält, tut dies zur Zeit, um sich mir Wild-Life-Sensationen im Wettbewerb der Weltmetropolen um Touristen und Ansehen zu positionieren. Jedes einzelne von ihnen wird jeweils von durchschnittlich 200 Millionen Menschen jährlich besucht, hat die WAZA errechnet. Den Tierparks garantieren sie in der besucherarmen Zeit im Winter Erlöse, die sie sonst nicht hätten.
Es ist kurz nach neun Uhr. Richter und sein Team von Tierpflegern ist seit zwei Stunden im Dienst. In der Küche bereitet Simone Flacke das Futter vor. Auf dem Speiseplan der Tausende Fische heute: zehn Riesengarnelen, fünf Seelachfilets, drei Octupusse, eine halbe Tüte kleine Garnelen, zweieinhalb handvoll Muscheln und drei Tuben Fischkonzentrat. Klein gehackt genüge diese Ration für die Seetiere der gesamten Aquarienanlage. Bessere Qualität bekommt man auch auf dem Hamburger Fischmarkt nicht, sagt die 30jährige Tierpflegerin. Sie schaut während der Arbeit aus ihrem Fenster und beobachtet ein Schwarm von Schulkindern in Richtung Hai-Atoll ziehen. Die Kinder starren die Pflegerin an, sie sagt: Manchmal komme ich mir vor wie ein Fisch hinter der Aquariumscheibe.
Eine einzigartige Scheibe aus Acrylglas trennt im Hai-Atoll die vor Staunen völlig verstummten Kinder von den Riff- und Zebrahaien, Napoleon-Lippfischen, Blaustreifenschnapper, Drückerfischen, Vogellippfischen und einem 30-Kilogramm schweren Indischen Zackenbarsch. Das Becken faßt 1,8 Millionen Liter Salzwasser und ist Lebensraum für 2000 Fische. Die Trennwand ist 14 Meter lang, sechs Meter hoch, 22 Zentimeter dick und 26 Tonnen schwer. Nur zwei Unternehmen in der Welt sind zur Zeit in der Lage Aqurienscheiben dieser beeindruckenden Größe zu bauen. Vergliche man dieses riesige Becken von Hagenbeck mit einem Auto, es wäre allerdings nur die Oberklasse unter den Mittelklasseautos. Die Stars treten woanders auf.
In den Riesenaquarien von Baltimore, Vancouver und Okinawa tauchen ganze Walhaie, Mantas oder Walrosse durch die gigantischen Becken. Das zur Zeit weltweit größte Aquarium ist das Georgia Aquarium in den USA. Mit 23 Millionen Liter Wasser und über 80.000 Fischen enthält allein das dortige Ocean-Voyager-Becken 20 mal mehr als das Sea Life Center in Berlin insgesamt besitzt und ist größer als die gesamte 8000 Quadratmeter große Anlage von Hagenbeck. In Europa verzeichnen indes die größten Aquarien in Valencia, Genua und Lissabon Rekordbesucherzahlen. In Deutschland konkurrieren zur Zeit rund 50 Großaquarien miteinander. Im nächsten Jahr wird die neue deutsche Aquarien-Sensation im Stralsunder Meeresmuseum eröffnen. Ihre 50 Millionen Euro teuren Bauten werden architektonisch angelegt sein wie von Wasser umspülte Steine.
Was die Natur aus sich heraus kann, muß der Aquarianer durch Einsatz von Maschinen inszenieren. Mit kleinen Schritten schreitet Richter durch eine blaue Stahltür mit der Aufschrift Aquarientechnik. Wie ein Trickkünstler, der einem Kind die Illusion zunichte macht, daß es wahren Zauber gibt, hält Richter die Tür geöffnet und offenbart den Maschinenpark des Aquariums als wäre es ein Geheimnis: Vor uns türmen sich mächtige Pumpen, riesige Filteranlagen und kilometerlange Schläuche, Rohre und Kabel. Ein Drittel des Raumvolumens des gesamten Hamburger Tropenaquariums benötigt allein die Wassertechnik im Hintergrund. Hier drinnen lärmt es wie auf dem Vorfeld eines Flughafens. Auf der anderen Seite der Wirklichkeit hören die Besucher dagegen nur das Gurgeln der Sauerstoffbläschen im Aquarium.
Nicht nur die Technik muß ein Aquarianer beherrschen. Vor allem der Transport und die Vergesellschaftung der Tiere in einem neuen künstlich angelegten Biotop ist heikel: Vor der Reise bekommen Fische drei Tage lang kein Futter, da sie sonst während des Transports an den eigenen Ausscheidungen sterben könnten. Allein die Reise verursacht beim Tier extremen Streß, der lebensbedrohlich werden kann. Fische, die später am Bestimmungsort verenden, sterben oft genau an den Spätfolgen der Reisestrapazen. Anders als für Säugetiere hat der deutsche Gesetzgeber für Fische keine Richtlinien auf welche Weise diese zu transportieren und zu halten sind. Organisationen wie der World Wildlife Fund (WWF) oder Greenpeace geben nur Empfehlungen heraus. Halten muß ich daran niemand.
Bevor die Riff- und Zebrahaie von Hagenbeck in ihr neues Zuhause gelassen wurden, haben Richter und das Pflegerteam zwei Monate lang täglich die Wasserqualität des neuangelegten Beckens gemessen. Auch die richtige Salinität der Wert, der den Anteil des Salzes im Wasser angibt mußte herausgefunden werden. Für die Salzwasseraquarien wird Hamburger Trinkwasser verwendet und mit Meersalz angereichert. Zur Eingewöhnung der Haie in ihrem neuen Atoll hat sich das Pflegerteam eine halbe Nacht Zeit genommen. Erst dann kamen die übrigen Kleinfische dazu. Futter gibt es immer für alle genug, aber nie zuviel. So kommen die Haie nicht auf den dummen Gedanken, Kleinfische zu kosten.
Aquaristik ist ein Lernprozess ein Leben lang, sagt Richter. Er redet in Hamburger Mundart. Die Korallenzucht sei eine der schwierigsten Disziplinen der Aquaristik. Um Blumentiere zum Wachsen zu bringen, bräuchten sie Strömung, Licht und Spurenelemente wie Calcium, Magnesium, Strontium, Jod und Eisen in der richtigen Mischung, aber vor allem Gefühl, Geduld und Gutmütigkeit. In ein oder zwei Jahren wird man sehen, ob seine Arbeit am Korallenriff gefruchtet habe, sagt er.
Er sitzt wieder auf dem Rand des Korallenbeckens. Eine auf die Tiere gerichtete 2000-Watt UV-Lampe wirft blau-grüne Schatten auf Richters Gesicht. Wenn es soweit ist, wird er lange in Pension sein. Aber so sei es nun einmal. Irgendwann müssen die Alten den Jungen weichen, sagt er. Zwei Wimpernschläge lang hält er inne, als stiege Wehmut in ihm hoch. Nachts wird er bald durchschlafen können.