DER MENSCH LÜGT, DIE MASCHINE NICHT

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Der Computer ist ein Nimmersatt: er frißt das Telefon, schluckt das Fernsehen und tötet das Buch, sagen einige. Blödsinn, sagt Friedrich Kittler. Medien sind keine Kannibalen. Medien sind Möglichkeiten. Das Gespräch fand im Herbst 2001, kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center, in seiner Berliner Wohnung statt.

Herr Prof. Kittler, lassen Sie uns zuerst übers Fernsehen reden.
Gerne. Leider aber schaue ich kaum fern.

Warum nicht?
Meine Arbeit fesselt mich den ganzen Tag an den Computer, der Bildschirm frisst meine Augen, vor allem wenn ich selber Computerbilder programmiere. Am Abend habe ich dann wenig Lust die unsinnlichen Programme zu schauen, die uns die Fernsehmacher bieten.

Sie meinen, Fernsehen verdummt?
Nein. Ein Medium selbst kann Menschen nie verdummen, die TV-Macher und deren Programme schon. Es sind immer die Menschen und nie die Maschinen, in denen die Wahrheit oder die Lüge steckt. Ein Buch etwa kann auch nie per se intelligent sein. Es kommt darauf an, was in ihm steht. Eines aber unterscheidet das Buch vom Fernsehen ganz sicher: ersteres ist sinnlicher als das zweite.

Wie unterscheidet sich die Sinnlichkeit des Benutzers, die er aufbringen muß um fern zu schauen von der um ein Buch zu lesen?
Ein Druckwerk verlangt seinem Leser ein großes Spektrum an Vorstellungskraft ab. Er muß dem Text seine ganze Sinnlichkeit hinzufügen. Auf diese Weise, die seit der europäischen Romantik auch ihre unguten Seiten hat, wird die Botschaft des Autors im Geist des Lesers zum Leben erweckt. Das Fernsehen dagegen umgarnt seine Konsumenten in erster Linie durch das Bild. Das allein befriedigt den Voyeurismus und Exibitionismus eines Zuschauers, dem Massenmedien und Werbung einen Teil seiner Liebe abzweigen. Dafür kann er sich entspannt zurücklehnen und in seine Chipstüte greifen. Das ist sein einzig aktiver Beitrag zu dem Fernsehabend. Das Buch hingegen verlangt ihm mehr selber gemachte Erfahrungen ab.

Das klingt, als sei das Fernsehen Schuld daran, daß die Menschen weniger lesen.
Tatsache ist, die Menschen schauen mehr fern, als sie Bücher lesen. Das war vor zwanzig Jahren sicherlich anders. Dafür gibt es viele Gründe. Einer ist die große Auswahl der Medien, die Menschen heute zur Verfügung haben, um Realtitäten zu konsumieren. Das Fernsehen ist das liebste Massenmedium der technischen Gegenwart. An dieser Tatsache kann niemand zweifeln. Ich allerdings glaube noch immer fest an das Göttergeschenk der Sprache und Schrift. Überlegen Sie einmal: Welche Botschaft hätte ein Fernsehbild ohne das gesprochene Wort dazu?

Was glauben Sie denn?
Erinnern Sie sich an die Bilder des einstürzenden World Trade Centers: Nach dem Einschlag des ersten Flugzeugs, zeigten die Fernsehmacher stundenlang die immergleichen Bilder der Katastrophe. Wie ein Loop spulten sie das schrecklich-schöne Feuerwerk immmer und immer wieder vor unseren Augen ab. Die Bilder ließen keine Reflexion zu, weil wir geradezu betäubt waren von dem Geschehen. Als sich dann jedoch das Sensationelle an den Bildern erschöpfte, blieb ein Wissensvakuum in den Köpfen der Menschen: Wir wollten die Gründe für das Attentat wissen. Über die Hintergründe aber erfuhren wir erst zwei, drei Stunden nach dem ersten Live-Bild. Es war also das Wort, das den Zuschauer aufklärte, nicht das Bild.

Sie meinen, die bewegten Bilder gaukeln einem manchmal Inhalte vor, zeigen aber in Wahrheit nur die Leere?
Ja. Bilder erzeugen als solche schon Oberflächen. Erst das dazugefügte Wort gibt ihnen die Tiefe. Es kann Sachverhalte analysieren, reflektieren und beschreiben. Wir Menschen haben das dringende Bedürfnis uns ein eigenes Bild der Realität zu machen. Dazu ist die geschriebene und gesprochene Sprache sehr wichtig. Bilder allein genügen nicht.

Es gibt Medientheoretiker, die behaupten, das Bild verdränge mehr und mehr das Wort – sie meinen, das Fernsehen bewirke das Aussterben des Buches. Gibt es soetwas wie Medienkannibalismus?
Es gibt einige Beispiele in der Geschichte dafür, daß Medien spurlos verschwinden: Die Papierrolle der Griechen stellte sich als unpraktisch heraus, wenn man etwas nachblättern wollte. Das Buch ist bequemer, es löste die Papierrolle ab. Der mittlerweile verstorbene Philosoph Vilém Flusser glaubte zu erkennen, das Bewußtsein des postmodernen Menschen werde zunehmend von den Bildern geprägt, die er rezipiert. Die Kunsthistoriker reden dabei vom „Picturial Turn“. Sie meinen damit, die Welt löse sich in Bilder auf. Andere, wie der amerikanische Populärwissenschaftler Neil Postman versuchen den Menschen weis zu machen, das Fernsehen und auch der Computer seien Teufelszeug, weil sie die Menschen voneinander entfremden.

Für viele Medien erweist sich der Computer tatsächlich als diabolisches Medium. Es saugt andere in sich auf wie ein Nimmersatt.
Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan hat einen Merksatz aufgestellt, wonach der Inhalt eines jeden Mediums ein anderes Medium ist. Und so ist es tatsächlich: der Roman etwa gibt alte Mythen in volkstümlicher Prosa wieder, der Spielfilm ist ein wesentlicher Inhalt des Fernsehens, Rede, Gespräch und Warnung sind Inhalte des Radios. Und alle diese Inhalte werden heute unter unseren staunenden Augen Teile des Computers: Schrift, Bild und Ton vereinen sich in diesem Medium. Doch auch bei diesem Vorgang kann man nicht von Kannibalismus sprechen. Da wird nichts getötet oder gefressen, sondern bloß integriert. Die Inhalte der alten Medien leben in einem neuen weiter. Ich spreche also lieber vom „Take over des Computers“.

Wird das Fernsehen also Teil des Computers werden?
Ja. Die Multimediaindustrie ist da wesentlich fortschrittlicher, kreativer und radikaler als die Fernsehanstalten. Die Tage des traditionellen Fernsehens werden gezählt sein, wenn sich die Fernsehindustrie nicht auf die Entwicklung einstellt.

Was wird mit dem Fernsehen passieren?
Im Gegensatz zur Television ermöglicht der Computer eine Point-to-Point-Kommunikation. User können sich von jedem Ort der Welt, zu jeder Zeit, jede Information besorgen, die sie benötigen. In wenigen Jahren werden Fernsehmacher ihre Programme „On Demand“ anbieten müssen, wenn sie die Bedürfnisse der Menschen nach individueller Kommunikation befriedigen wollen: die Zuschauer werden die von ihnen gewünschten Programme sehen wollen, wann und wo sie es wollen, und nicht wenn die Anstalten sie ihnen anbieten.

Das heißt, Fernsehen wird es weitergeben, die Programmlogik aber wird verschwinden.
Ja. Die Fernsehmacher in den Anstalten stehen vor einem einschneidenden Problem. Sie fürchten die Entwicklung, weil ihr Monopol ins Wanken geraten ist. Jeder kann heute Bilder aufzeichnen und über das Internet vertreiben. Fernsehen ist durch das Netz ein Stück demokratischer geworden. Das einzige was die Anstalten retten kann ist folgendes: sie haben noch immer die Macht über die ästhetische und informelle Selektion: Sie besitzen Geld, Knowhow und Produktionsmittel um massentaugliches Material auszuwählen, zu produzieren und zu es zu vertreiben. Denn wer will schon 24 Stunden lang das Leben eines Webgirls beobachten, oder eines der Experimentalfilme von Andy Warhol sehen.

Der hat einmal zwölf Stunden lang seine Kamera auf das Empire State Building gehalten. Das war dann sein Film.
Stimmt. Der war sterbenslangweilig, weil er nur einen Ausschnitt zeigte. In dem Film war kein Schnitt und kein Perspektivwechsel. Da lese ich lieber ein Buch. Es kann emotional verdichten, Sachverhalte erklären, Bilder beschreiben. Mit Büchern kann man die tollsten Sachen machen: vorwärts und rückwarts blättern, darin schreiben, malen, darauf einschlafen und darüber träumen.

Und welches Buch lesen Sie momentan?
Leider habe ich kaum dazu. Nur wenn meine Frau mir einen Roman schnekt, dann lese ich ihn sofort.

Warum?
Ihre Bücher sind nie bloß Geschenke. Sie sind Botschaften.

Zur Person
Friedrich Kittler wurde 1943 in Rochlitz/Sachsen geboren. 1958 flüchtete er aus der DDR. Wenige Jahre später begann er an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg das Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie. Friedrich Kittler war Professor für Ästhetik und Geschichte der Medien an der Humboldt-Universität in Berlin. Kaum ein Geisteswissenschaftler seines Kalibers war technisch so kundig wie er. Friedrich Kittler galt als einer der bedeutendsten Medientheoretiker unserer Zeit. Er ist im Oktober 2011 in Berlin gestorben.