AUFSTAND DER ANSTÄNDIGEN

Warum der türkische Einzelhandel blüht, während der deutsche taumelt. Erschienen in brand eins, 2003.

Nach sechs Monaten hatte er genug. Automechaniker zu sein, das war sein Traumberuf, doch was Firat Özer an seinem damaligen Job störte, war folgendes: Er und ein anderer Türke in dem Betrieb sollten am Ende jedes Arbeitstages die Werkhalle fegen. Die letzte Tat kommandierte sein damaliger KFZ-Meister im Stil eines Armee-Oberbefehlshabers. Abend für Abend spuckte der folgenden Satz aus und noch heute klingen die Worte des Chefs in den Ohren von Firet Özer nach wie ein Echo, er sagte: „Du und Du, Ihr beiden: Halle ausfegen!“ Dabei zeigte er immer mit seinem Zeigefinger auf die beiden, während die deutschen Kollegen sie anstarrten und ihre Reaktion studierten, daran erinnert sich der 33jährige noch ganz genau.

Eines Morgens beschloß Firet Özer dem Treiben seines Chefs ein Ende zu bereiten. Er spazierte in das Büro seines Bosses, schaute ihm in die Augen, warf ihm seine Arbeitspapiere hin und verabschiedete sich mit folgenden Worten (O-Ton): „Du und Deine ganze Bande, Ihr könnt mich mal. Ich geh‘. Ich bin nicht euer Müllmann-Ali.“ Das war 1981 und seitdem hat Firet Özer nie wieder in einem deutschen Betrieb gearbeitet.

Heute steht der Vater von drei Kindern hinter dem Tresen seines Feinkostladens im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Dort verkauft er Spezialitäten der Mittelmeerländer. Seinen Beruf als Einzelhändler liebt er und sein Glück heute habe er irgendwie auch seinem damaligen Chef zu verdanken, sagt er. „Seine Niedertracht hat mich in die Selbständigkeit getrieben, gottseidank.“

Während Firet Özers Geschäft floriert, jappst der Laden einer deutschen Einzelhändlerin um die Ecke ums Überleben, während sich Onkel Mehmet also die Hände reibt, jammert Tante Emma übers Dasein. Das Dilemma in dem viele deutsche Einzelhändler stecken hat oft die altbekannten Gründe und darüber, daß die Supermärkte die Einzelhändler auf dem Gewissen haben, kann man klagen, oder auch nicht. Der Erfolg vieler türkischer Einzelhändler jedenfalls hat – neben vielen anderen – vor allem auch einen Grund und der klingt vielleicht ein wenig banal, aber er ist wahr: keine Studie hat das bisher untersucht, und kaum jemand der Migranten redet offen darüber und schon kaum ein türkischer Einzelhändler. Denn das wäre schlecht für sein Geschäft. Er repräsentiert für viele seiner Kunden den immerbraven Ali, der gute Laune und frische Ware hat für wenig Geld – und mehr nicht.

Der Erfolg der türkischen Einzelhändler resultiert unter anderem aus einer Mentälität, die dann entsteht wenn man als Migrant von unten in eine Gesellschaft einsteigt. Viele Türken – und das trifft für viele Einwanderer zu, egal an welchem Ort sie auf dieser Welt leben – jammern nicht, wenns ums Malochen geht. Lieber schaffen sie die Arbeit weg, weil ihnen bewußt ist, daß nur die Arbeit ihnen das Überleben in der Fremde sichert. Noch viele Jahrzehnte nach ihrer Migration haben viele Einwanderer viel gearbeitet für sehr wenig Geld und das vor allem als abhängig Beschäftigte. Heute wollen viele das nicht mehr. Sie arbeiten immer öfter vor allem für die eigene Kasse. Darin, aber natürlich nicht ausschließlich, liegt auch das Geheimnis des Erfolgs des türkischen Einzelhandels.

1999 gab es 55.200 (1985: 22.000) türkische Unternehmen in Deutschland, 19.900 (36%) davon im Einzelhandel. Er ist der größte Sektor unter den türkischen Betrieben, vor dem Gastronomiegewerbe (24,2%) und der Dienstleistungsbranche (19,8%). 57% aller Betriebe im Einzelhandel sind Lebensmittelgeschäfte. Der Gesamtumsatz aller türkischen Unternehmen in Deutschland betrug 1999 etwa 50 Mrd. Mark, der des Lebensmitteleinzelhandels rund 10 Mrd. Mark. Fast die Hälfte aller Besitzer von Lebensmittelgeschäften ist zwischen 30 und 45 Jahre alt. Der türkische Lebensmitteleinzelhandel ist in der Hand der zweiten Einwanderergeneration.

Während die Elterngeneration eine Nischenökonomie betrieb, indem sie türkische Waren zu Niedrigpreisen vor allem an Landsleute verkaufte, hat die zweite Generation die Geschäfte nach ihrer Übernahme in den Neunziger Jahren als multikulturelle Kolonialwarengeschäfte positioniert. Im Gegensatz zu dem Nischenangebot von früher offerieren die Geschäfte heute Leckereien aus aller Welt: Fladenbrot aus Arabien, Curry aus Indien, aus Italien Ölivenöl, Wein aus Spanien, Tee aus dem Iran, Gemüse aus Deutschland. Die Kundschaft ist auch europäischer, arabischer und asiatischer, aber überwiegend deutscher Herkunft.

Viele türkische Lebensmittelhändler arbeiten in Familienkollektiven. Das ermöglicht ihnen flexible Arbeitszeiten und niedrige Personalkosten. Für die Kunden bedeutet das, sie können, anders als in vielen von Deutschen betriebenen Geschäften und Supermärkten, früher am Morgen und auch später am Abend noch einkaufen. Seit einigen Jahren weicht nun in moderneren türkischen Betrieben das altbewährte Familienprinzip einem neuen Personalmodell. Das liegt häufig daran, daß viele junge Türken kein Interesse an dem Geschäft ihrer Eltern haben. Sie wollen nicht mitarbeiten, lieber studieren sie oder streben eine Angestelltenlaufbahn an. Diejenigen, die das Geschäft ihrer Eltern übernehmen oder eines neugründen, ersetzen mehr und mehr die Familie als Arbeitskollektiv durch eine neue Struktur: sie beschäftigen Freunde oder Bekannte. Auf diese Weise wahren sie die Personalflexibilität, und auch die familiäre Atmosphäre und den guten Service, den viele Kunden schätzen. Zudem muß sich das Personal auf diese Weise nicht strengen Hierarchien unterwerfen. Denn das mußten ihre Eltern lang genug tun.

Die Geschichte von Einwanderern ist immer auch die Geschichte von Unterdrückung, Ausbeutung und Rassismus, aber auch von Aufstieg und Erfolg. Jeder der in Deutschland lebenden ehemaligen sogenannten Gastarbeiter, erinnert sich an die elenden und menschenverachtenden Lebensumstände, in die er anfänglich hineingeriet. Viele von ihnen lebten in verfaulten Baracken in Arbeitslagern. An den Wochenenden machten sich neugierige Deutsche dorthin auf, um an den Zäunen zu stehen und die Menschen, die aus der Ferne kamen, zu beobachten wie Tiere in einem Zoo. Viele Einwanderer mieteten später feuchte, schimmelige oder baufällige Wohnungen, die viele Deutsche nichteinmal geschenkt genommen hätten. Sie verrichteten Hilfs-, Schwerst- und Drecksarbeiten und das bis zu 16 Stunden am Tag. Daran erinnern sich auch die Töchter und Söhne der ersten Einwanderer noch genauso wie ihre Eltern.

Fatih Özdemir, 29, will niemanden mit Klageliedern langweilen. Erst nach mehrmaligem Fragen, erinnert er sich an die Tage, an denen sein Vater nach Hause kam und demoralisiert in die Couch fiel. Er arbeitete als Hilfsarbeiter in einer Bremer Werft. Der Ton unter den Kollegen war derb. Er selbst verstand nicht gut Deutsch. „Die Männer haben mit ihm geredet wie mit einem Hund,“ erzählt Fatih Özdemir. Eines Tages kündigte der Vater freiwillig, weil er seinen Stolz wahren wollte. Später übernahm er den Gemüseladen eines Deutschen. Der hatte das Geschäft aufgegeben, weil die Konkurrenz der Supermärkte ihn erdrückte. Heute steht sein Sohn hinter dem Tresen. Fatih Özdemir hat einen Realschulabschluß, er spricht deutsch, türkisch, englisch, französisch und arabisch und hat vier Mitarbeiter. Mit seinen Fähigkeiten, könnte er als Angestellter arbeiten. Er aber entschied sich für den Job als Gemüsehändler, er sagt: „Ich verdiene gut, ich bin frei, ich muß niemandem gehorchen.“

Wie auch Firet Özer, erinnert sich Fatih Özdemir noch an die Parole, die ihm seine Eltern mitgaben, sie sagten: „Willst du etwas erreichen, mußt du es besser machen als die Deutschen.“ Dieser Rat habe sich in ihnen eingeprägt wie ein Lebensprogramm, sagen sie. Ihr Erfolg und der anderer türkischer Einzelhändler resultiert aus ihrer Bereitschaft länger, härter und besser zu arbeiten als die Konkurrenz und im zweifelsfall sogar mit niedrigeren Gewinnen zufrieden zu sein als sie. „Als Einwanderer,“ sagt Fatih Özdemir, „steigst Du von unten in die Gesellschaft ein.“ Und wer unten ist, dem bleibt häufig nur der Weg nach oben, denn unter einem, da lauert nur noch die Unterwelt, das weiß jedes Einwandererkind.

Was nach Sozialkitsch klingt, ist in Wirklichkeit ein realexistierender Film für nicht wenige türkische Einzelhändler der zweiten und dritten Generation. Ihr Streifen trägt den Titel: „Einer will nach oben“ – aber ohne deutschen Chef.
Derya Altay kann das bestätigen. „Viele junge Türken wollen Erfolg,“ sagt sie. „Viele von ihnen aber wollen die Erfahrungen, die ihre Eltern machen mußten, nicht wiederholen. Sie ziehen sich deswegen zurück in ihre ethnische Nische.“ Derya Altay ist Geschäftsführerin des Bundesverband des Türkischen Groß- und Einzelhandels e. V. in Köln. Der Verband hat sich vor drei Jahren unter dem Dach des Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) gegründet. Zu Beginn gruppierten sich hier die großen Ketten wie „Yimpaz“ oder „Teke“. Sie machen jeweils einen Jahresumsatz von mehr als 50 Millionen Mark. Später kamen viele kleinere Unternehmer hinzu. Ihnen hilft die Interessenvertretung bei der Existenzgründung, bei der Kapitalbeschaffung und bei rechtlichen Fragen.

Ausländer, die eine Unternehmung aufbauen wollen und nicht aus der EU stammen wie es bei Türken der Fall ist, benötigen eine Sondergenehmigung der deutschen Behörden. In Berlin beispielsweise gibt es seit drei Jahren folgende Regelung: „Türkischen Staatsangehörigen, die sich nach fünfjähriger Erwerbstätigkeit oder nach zehnjährigem ununterbrochenen ordnunggemäßen Aufenthalt rechtmäßig hier aufhalten, ist die selbständige Erwerbstätigkeit zu gestatten.“ Die Behörde prüft jeden Fall individuell, die Genehmigungen stehen „im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde.“ Andere Bundesländer haben ähnliche Bestimmungen.

Türken seien im Bewußtsein vieler Deutscher gemeinhin Sozialschmarotzer und Wirtschaftsparasiten, Waffenhändler und Bombenleger, Fundamentalisten und Frauenfeinde. „Das ist das Bild des Türken in Deutschland,“ faßt Firet Özer die gängisten Klischees zusammen. Über anständige Türken wie ihn und die anderen erfolgreichen Händler aber werde nie berichtet, sagt er. Mit einer Ausnahme: Es sei denn sie sind rentable Türken. Denn dann sind sie gute Türken.
Nach einem Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie beschäftigten die 55.200 Selbständigen türkischer Herkunft in Deutschland 1999 etwa 300.000 Menschen. Dem Bericht zu Folge sind immer mehr Ausländer bereit das Risiko einer Unternehmensgründung einzugehen, auch die Türken. Denn wie viele andere Migranten aus anderen Ländern auch, haben immer mehr der 2,3 Millionen in Deutschland lebenden Türken ihren Lebensmittelpunkt mittlerweile nach Deutschland verlagert. Sie spielen nicht mehr mit dem Gedanken zurück zu kehren.

Der größte Teil der Löhne, Gehälter und Renten, die Ausländer in Deutschland erhalten, fließt wieder in den deutschen Wirtschaftskreislauf zurück. Haben 1984 1,6 Millionen ausländische Erwerbstätige rund neun Milliarden Mark in ihre Heimatländer transferiert, überweisten 1999 2,9 Millionen erwerbstätige Migranten bloß 6,8 Milliarden Mark. Ausländer, resümiert der Bericht, seien „ein echtes Plus für die deutsche Wirtschaft“.

Ein echtes Plus für die Verbraucher ist auch der türkische Gemüsemann. Seine überwiegend deutsche Kundschaft liebt ihn und freut sich darüber, daß ihnen der nette Onkel Mehmet den Tag versüßt mit ein wenig Orient-Exotik. Auch nimmt er es mit den Pfennigbeträgen nicht so genau. Die Preise rundet er gern mal ab, das ist im Sinne des Kunden. Mit dem Onkel aus Antalya kann man klönen und quatschen und tolle Sachen machen. Der hat jede Kundenseele gern, der bedient ohne demütig zu sein, der stellt jeden Kunden zufrieden wie ein kleines Kind. Für viele Kunden ist er der Kuschel-Ali. Sie nennen ihn „meinen Türken“. Vielen Dank, schönen Tag, auf Wiedersehen. „Aber immerhin stimmt meine Kasse jetzt,“ sagt Firet Özdemir.