Godot ist angekommen

Ausgerechnet mit seiner Paradenummer wird er den deutschen Zuschauern schmerzlich in Erinnerung bleiben. Alessandro Del Piero, Legende von Juventus Turin. Erschienen in Spiegel Online, 2007.

Das erste Gegentor von Fabio Grosso war ihnen gerade aufs Gemüt geschlagen, als sein Kapitän den Gandenstoß einleitete: Cannavaro fängt einen laschen Sturmversuch der Deutschen ab. Dann, Cannavaro auf Totti, Totti auf Gilardino, Gilardino auf Del Piero. Del Piero war zuvor vom eigenen Strafraum zu einem unter normalen Umständen idiotisch erscheinenden Sprint über 80 Meter gestartet.

Wie aus dem Nichts taucht er am Strafraum der Deutschen auf als sein Sturmpartner Gilardino ihm den Ball übergibt. Aus halblinker Position im deutschen Strafraum stopft Del Piero die Kugel in den langen, rechten Winkel und sprengt das bereits verwundete Herz der Deuschen vollends. „La Matonella”, der Ziegelstein, nennen sie diese Nummer von ihm in Italien. Mit diesem Schuß hatte er das deutsche Delirium im WM-Sommer 2006 beendet und sich selbst in die Geschichtsbücher geschossen.

Wie häufig in den letzten Jahren war die hängende Spitze von Juventus Turin auch im Halbfinale gegen Deutschland nur eingewechselt worden. An seine Rolle als Edel-Komparse der Nationalmannschaft hatte er sich über die Jahre gewöhnen müssen, obwohl zu Beginn seiner Karriere Trainer, Funktionäre, Journalisten und Fans schnell die des Anführers für ihn vorgesehen hatten. „La Bandiera” nennt man solche Spieler in Italien, die Fahne. Den Leithammel zu geben, entsprach aber nie seiner Mentalität.

Als Giovanni Trappatoni Del Piero 1993 von Calcio Padova aus der Serie B für umgerechnet zwei Millionen Euro zu Juventus Turin holte, eroberte sich der Sohn eines Elektrikers und einer Hausfrau schnell einen Platz neben dem unwiderstehlichen Gianluca Vialli. Später nannten sie in Italien die linke Seite des Feldes die „Zona del Piero”, das Gebiet von del Piero, weil er auf dieser Flanke gewissermassen Territorialrecht hatte: von hier schlug er den Torhütern ein ums andere Mal seine Ziegelsteine ins Netz. Allein Luca Bucci, immerhin dritter Torwart des italienischen Finalisten bei der WM 1994 in den USA, hat in seiner Laufbahn elf mal gegen Del Piero hinter sich gegriffen, davon vier Ziegelsteine.

Seit 1994 trägt Del Piero, der Michel Platini und Marco Van Basten zu seinen Idolen zählt, bei Juventus die Rückennummer 10. Seine Leistungen veranlassten das Management dazu, ausgerechnet den Vertrag seiner Majestät Roberto Baggio nicht zu verlängern und stattdessen auf den melancholischen Del Piero zu setzen. „Vergleicht mich bitte nicht mit Baggio,” hat er immer wieder verlegen gesagt. Weil er sich gegen den Vergleich aber nicht vehment genug wehrte, verglichen ihn natürlich alle mit Baggio.

Alessandro Del Piero teilt seine Befindlichkeit nie gern mit dem Megaphon in der Hand der Welt mit. Er hat auch nicht die vulkanische Explosivität eines Gattuso, die ritterliche Aura von Cannavaro oder den Schneid eines Totti, weder auf dem Platz noch außerhalb. Del Piero, Buchhalter von Beruf, stammt aus einem Ort namens Conegliano in der Nähe von Treviso im norditalienischen Venetien. In seinem Heimatdialekt rufen ihn die Leute „„bronsa cuerta“”, was „die „zugedeckte Kaminglut”“ bedeutet, die Glut also, die unter der Asche weiterlodert – del Piero ist zurückhaltend, höflich, ernst, ein Spieler mit meist gutmütigen Gesichtszügen, auch wenn er die miesesten Fouls einsteckt.

„Ein Kavalier verlässt seine Dame nicht,” hat er gesagt, als es sich im letzten Sommer abzeichnete, Juventus Turin würde im Zuge der Ermittlungen um Calciopoli mindestens in die Serie B verbannt werden. Die Söldner zogen weiter: Ibrahimovic, Vierá, Emerson, Cannavaro, Thuram und Zambrotta gingen zu Inter, Real und Barca. Del Piero ließ aus dem krisengeschüttelten italienischen WM-Lager in Duisburg verlautbaren, er bleibe auch in seiner zwölften Serie seiner Juve treu, obwohl er eine Serie zu erwarten hatte, in der sein Team fehlenden Punkten hinterher hecheln würde wie ein Esel der Karotte. Neun Zähler wurden der alten Dame für die laufende Saison abgezogen. Mittlerweile wurde dem Verein durch den Beschluss eines Zivilgerichts acht davon erstattet. Turin ist zur Zeit zweiter der Serie B und Zugpferd der Liga.

Doch während Del Pieros alte Dame auswarts für Rekordumsätze sorgt, schmerzt der eigene Einnahmeverlust: In Albinoleffe begrüßten 16.745 Zuschauer die Stars aus Turin. Im Vergleich zur Durchschnittszuschauerzahl von 1879 bedeutete dies eine Steigerung um fast 800 Prozent. In Piacenza strömten 300 Prozent mehr Zuschauer ins Stadion als Juve kam, in Triestina 250 Prozent. Auf die eigenen Bilanzen schlägt sich die zweite Spielklasse hingegen schlecht nieder. Am Ende der Saison befürchtet Juve-Präsident Gigli einen Einnahmeverlust von rund 100 Millionen Euro. Del Piero wurde dennoch gerade ein Vertrag auf Lebenszeit angeboten. Um den 32-jährigen Hobbywinzer baut Trainer Didier Dechamps ein neues, junges, hungriges Juventus auf, das an die alten Erfolge anschließen soll.

„Wir warten auf Godot,” hat der mittlerweile verstorbene Ehrenpräsident von Juve, Gianni Agnelli, Del Piero einmal über die Presse zugerufen. Er spielte damit auf dessen schleppende Genesung nach dem Kreuzbandriss an, den der Stürmer sich 1998 gegen Udinese Calcio zugezogen hatte. Derselbe Agnelli hatte ihn noch zuvor Pitturicchio genannt, nach dem Freskenmaler von Papst Pius II. Agnelli liebte Del Pieros feinsinnige Art Fußball zu spielen, aber warf ihm wie viele Fußballanhänger in Italien vor, sein göttliches Talent zu verschleudern. Zu lethargisch, zu freundlich, zu genügsam sei er, rechneten sie ihm vor. „Hör auf zu schlafen, Godot,” stand damals in Anspielung auf Agnellis Ausruf auf einem der Transparente im Stadio delle Alpi, was soviel hieß wie: „Mach dich endlich nützlich!.

Heute ist er der am höchsten dekorierte aktive Fußballer Italiens. Mit 204 Toren hat Del Piero kürzlich den bisherigen Rekordtorschützen von Juve, Giampiero Boniperti, überholt. Del Piero ist mehrfacher italienischer Meister, Gewinner der Champions League, Italienischer Pokalsieger, Weltpokalgewinner, Europameister mit der U 21 und Weltmeister. Stilistisch hat er sich in die Riege famoser italienischer Kreativspieler eingereiht wie Mazzola, Rivera, Antognoni, Conti, Giannini und Baggio, Spielertypen, die mit Intelligenz und Virtuosität das Offensivspiel ihrer Mannschaft komponierten, ohne sich selbst großartig schmutzig zu machen.

In Del Pieros Heimatort haben sie gerade das Stadion nach ihm benannt. Godot ist angekommen. Und die Deutschen haben ihn als ersten durch die Tür treten sehen müssen.