Harte neue Welt

1955 unterschrieben die Bundesrepublik Deutschland und Italien ein Anwerbeabkommen. Bald darauf zogen die ersten italienischen Gastarbeiter nach Deutschland. Einer von ihnen war mein Vater, Salvatore Avantario. Erschienen in Financial Times Deutschland, 2006.

1958. Ein Plakat an der Bushaltestelle der Piazza Marconi in Andria, einem Städtchen in Apulien, das in Italien für nichts berühmt ist, vielleicht nur für das Jagdschloß, das sich Friedrich Barbarossa II. einst vor den Toren der Stadt bauen ließ. Heute hat es das Castel del Monte zur Prägung auf der italienischen Eincentmünze gebracht. „Vita nuova”, ‘Neues Leben‘, steht da in großen Buchstaben. Die deutsche Regierung sucht billige Arbeitskräfte. Die italienische Regierung will sich der teuren Arbeitslosen entledigen. „Es war ein gutes Geschäft für beide Seiten,” sagt Salvatore Avantario. Der Tischler kam 1961 nach Hamburg, hier arbeitete er als Schiffsbauer und Lagerist.

Er gehörte zu jenen 100.000 Italiener pro Jahr, die anfänglich angeworben wurden. In der Bundesrepublik waren 1954 mehr als eine Million Menschen (sieben Prozent) arbeitslos gemeldet gewesen. Ihre Zahl sank zwar 1955 auf 5,6, Prozent. Das Arbeitsamt verzeichnete jedoch 220.000 offene Stellen. Schwere körperliche Arbeit wollten die Leute hierzulande nicht mehr machen. In Verona und später in Neapel wurde deshalb eine „Deutsche Kommission” eingerichtet, die die Arbeiter aus Italien aufnehmen und selektieren sollte.

Um auf konjukturelle Schwankungen reagieren zu können, wurden diese Arbeiter mit Einjahresverträgen ausgestattet. „Ungelernte Arbeiter sollten die Knappheit an deutschen Kräften im so genannten „unstrukturierten” Segment der Arbeitsmärkte, also im Bereich unsicherer, unqualifizierter, schlecht bezahlter Arbeit, ausgleichen,” schreibt der Journalist Mark Terkessidis in seinem Buch „Migranten”. Auf diese Weise wurde der Gastarbeiter gewissermaßen zum Homo Oekonomikus im so genannten „Jedermannarbeitsmarkt”. Diese hochmobilen Arbeitskräften hatten eine weitestgehende Mobilität und Bindungslosigkeit mitzubringen. Integrative Maßnahmen wurden in den ersten Jahren von den Vertragspartnern ausgelassen.

In Neapel wurde Salvatore Avantario in einem streng geometrischen Raum vermessen. Er entkleidete sich, mit einem festen Fingergriff wurde der Anuskanal abgetastet, später mußten er einige Fragen beantworten, unter anderem jene, ob er Bettnässer sei oder Bewußtseinsstörungen hätte. Dann wurde ihm mit Filzstift eine Nummer auf den Körper geschrieben und die Reise begann. Der Zug endete auf Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs. Von dort wurde Avantario und die anderen Männer weiter verteilt zum VW-Werk nach Wolfsburg, in die Zechen ins Ruhrgebiet oder in die Häfen von Bremen und Hamburg. Frauen waren noch wenige unter den Arbeitern. Die Vermittlungsstellen in Deutschland und Italien unterschieden tatsächlich in Facharbeiter, Hilfsarbeiter – und Frauen. Später sollte ihr Anteil unter den angeworbenen Italienern in Deutschland auf rund 25 Prozent steigen.

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise entschloß sich Deutschland 1973 zum Anwerbestopp. Jeder neunte Arbeitnehmer war zu diesem Zeitpunkt nichtdeutscher Herkunft. Von den etwa 322.600 italienischen Arbeitern, die damals in Deutschland beschäftigt waren, arbeiteten 1975 – zwanzig Jahre nach Abschluß des Anwerbevertrags – noch immer rund 232.000 als ungelernte Arbeitskräfte, haben die Recherchen des Migrationsforschers Elia Morandi ergeben (Italiener in Hamburg, Peter Lang Verlag, 2005). Die Einkommensunterschiede zwischen Deutschen und Migranten klafften immer weiter auseinander. 1985 lag der Unterschied bei 15 Prozent, zehn Jahre später gar bei 18 Prozent. Noch 1997 sprach der „Bericht der Beauftragten der Bundesregierung über die Lage der Ausländer” von einer „immer noch überproportionalen Beschäftigung in besonders belastenden Berufen.”

Bis heute sind nach Abschluß des Anwerbeabkommens von 1955 insgesamt zwischen zwei und vier Millionen Italiener nach Deutschland gekommen, genaue Angaben gibt es nicht. Davon sind rund 670.000 hier verblieben. Insgesamt rund 10 Millionen Menschen nichtdeutscher Herkunft leben zur Zeit in Deutschland. „Der Italiener hat dabei die Musterrolle für den Wechsel der Feindbilder eingenommen: erst galt er den Deutschen als bedrohlich, später wurde den Türken diese Rolle auferlegt und der Italiener erschien freundlicher. Im Gegensatz zu den Afrikanern, die dann kamen, wirkte der Türke dagegen wieder fast europäisch. Heute ängstigt sich der Durchschnittsbürger vor dem fundamentalistischen Muslim,” sagt Prof. Klaus J. Bade, Professor für Neueste Geschichte und Direktor des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Der Italiener sei heute auf das Lukullische gebucht und gewissermaßen so etwas wie der Vorreiter für den Lifestyle der Deutschen.

Noch vor wenigen Jahrzehnten galt der italienische Gastarbeiter als Katzlmacher und Messerstecher. Wollte er in Bars und Kneipen, wurde er abgewiesen. Die miesesten Löcher wurden ihm als Behausung angeboten. Mittlerweile taugt der Italiener in der Werbung als charmante Wunderwaffe, dessen sprachliches Stückwerk verkaufsfördernd wirken soll: „Schmeckt-e gut-e!” (Joghurtwerbung) oder „Isch abe ga kaine Auto, Signorina!” (Kaffeewerbung). Seinem Lieblingsitaliener kann der deutsche Gutmensch heute auch mal Don Camillo oder Don Corleone rufen, ohne daß der sich gleich künstlich darüber aufregt. Er sei gut integriert, ist die landläufige Meinung. In Wirklichkeit hat der italienische Migrant im Laufe der letzten 50 Jahre in Deutschland die erstaunliche Karriere vom Gastarbeiter zum warmherzigen Idioten gemacht. Eine echte integrative Kultur hat sich hierzulande in all den Jahrzehnten nicht entwickelt.

Nehmen wir die Schulen. Dort zeichnet sich die Wirklichkeit für die hier verbliebenen Italiener der zweiten und dritten Generation durch politisches Versagen aus. Italienischstämmige Jugendlichen schnitten noch 45 Jahre nach Abschluß des Anwerbevertrags schlechter ab, als die anderen Gruppen von Migranten. Unter den rund 71.000 Schülern bundesweit war 1999/2000 der Anteil an Sonderschülern erschreckend hoch (5.623), höher als etwa unter den Jugendlichen türkischer Herkunft, dagegen der der Gymnasiasten erstaunlich niedrig (4.398), schrieb der Journalist Hans-Herbert Holzhamer in einem Beitrag für die Süddeutschen Zeitung im Januar 2003. Er berief sich dabei auf Statistiken des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Angesichts solcher Situation, resümiert das Institut für Migrationsforschung in Essen in einer Studie über Einwanderer der zweiten und dritten Generation, würden solchen Jugendlichen meist zwei Möglichkeiten bleiben: entweder der Ruckzug oder ein „Eintauchen in so etwas wie eine „Überlebenssubkultur” am Rande der Gesellschaft und am Rande der Kriminalität.” Anders als beispielsweise in den USA, das Dutzende italienische Erfolgsgeschichten geschrieben hat (De Niro, Scorsese, Giuliani), hat hierzulande der hart reglementierte Zuzug per Anwerbevertrag die Menschen ausschließlich in wirtschaftlich nutzbringende Segmente kanalisiert. Dies hat eine freie Entfaltung der Talente und Möglichkeiten erschwert, für viele gar unmöglich gemacht.

Die Reise von Salvatore Avantario endete damals in der firmeneigenen Unterkunft von Blohm & Voss. Die Hamburger Werft wurde unter italienischen Migranten liebevoll „La Blohm” genannt. Sie waren dankbar für die Jobs, obwohl ihr Leben sich auf das Allernötigste reduziert hatte: Zehn Kubikmeter Luftraum pro Bewohner waren zugelassen. Vier Betten, vier Stühle, ein Tisch, Toilette auf dem Gang. Ein Fünftel aller dieser Arbeitslager in Deutschland waren damals mit einem Stacheldrahtzaun und einem Schlagbaum ausgestattet. Immerhin war sein Lager in Hamburg-Finkenwerder dies nicht. Deutsch konnte keiner von den Männern, was unter anderem die widerliche Folge hatte, daß nach Einkäufen manch einer von ihnen anstatt mit Dosenfleisch mit Hundefutter nach Hause kam, weil er die Etiketten nicht identifizieren konnte.

Heute lebt er mit seiner Ehefrau Nicoletta, die hier als Industrieschneiderin arbeitete, wieder in Andria. Das schnelle Geld, das sie verdienen wollten, ist ausgeblieben. Er ist an einer Lungenembolie erkrankt und streitet sich seit Jahren mit der Berufsgenossenschaft um eine Entschädigung für seine Asbestose, die ihn Tag für Tag zunehmend innerlich zerfrißt. Andere italienische Arbeitskollegen sind an den Folgen ihrer schäbigen Arbeitsbedingungen an Krebs erkrankt oder mittlerweile gestorben. Deren Ehefrauen sind als Witwen nach Italien zurückgekehrt.

Die Migration ist derweil eine der größten sozialen Bewegungen der Erde geworden, schreibt der Fotograf Sebastiao Salgado in dem Vorwort zu seinem epochalen Fotoband „Migranten”. Glaubt man Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen, sind allein rund 18 Millionen Menschen auf dem Weg nach Europa. Damals kamen die Italiener in Zügen nach Deutschland. Heute kommen Migranten auf maroden Schiffen, auf Güterwagons festgezurrt, in Lastwagen gepfercht oder zu Fuß nach Europa. Manche kennen ihr Ziel, andere haben lose Hoffnungen auf ein besseres Leben. Wieder andere sind auf der Flucht und froh, einfach nur am Leben zu sein, wenn sie vor den Wällen Europas angelangt sind und dort um Einlaß bitten. Einen Anwerbevertrag haben diese Leute nicht in den Taschen. Zum Glück. Zu beneiden sind sie dennoch nicht.