Das geheime Drehbuch

Die „Stockholm“ nach der Kollision mit der „Andrea Doria“, 1956.

Man muss kein Söldner sein, der das Risiko sucht, kein Aufsässiger, der eine Revolution anführt, kein General, der in den Krieg zieht – meistens sind es alltägliche Entscheidungen
normaler Menschen, die über Leben und Tod bestimmen.
Erschienen in Du, 2006.

Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie ich Klaus Dorneich kennengelernt habe. Ich glaube, ein befreundeter Reporter brachte uns bei der langweilen Eröffnungsfeier des Internationalen Maritimen Seefahrtsmusem in der Hamburger Hafencity zusammen. Einige Lokalfürsten aus der Politik waren zu Gast, ein paar korrupte Reeder, dazu die üblichen Wichtigtuer von der Presse, die sich auf solchen Veranstaltungen herumtreiben. Dorneich war mir zwischen den vielen Wachsgesichtern sofort aufgefallen, weil er als einziger innerhalb dieser falschen Gesellschaft befreit lachen konnte. Wie ich später feststellte, hatte er die Leichtigkeit eines Menschen in sich, der mit einem zweiten Leben beschenkt worden war.

Der Abend ging zu Ende, wir tauschten unsere Telefonummern aus und ich rief ihn noch am selben Abend in seiner Suite im Hafenhotel an, damit unsere Begegnung nicht abkühlt. Dorneich lud mich zu einem Treffen in seine Bremer Wohnung ein. Er lebte damals mit seiner Ehefrau Marlene in einer Altbauvilla in der Nähe des Weserstadions und begrüßte mich drei Tage später in seiner Bibliothek, einem mit Nussholz getäfelten Raum, in dem es nach Kirschtabak roch und sich zwei schwere, grüne Ledersessel gegenüber standen. Wir setzten uns. Dorneichs Frau servierte schwarzen Tee und Mandelkuchen. Ich schaltete mein Aufnahmegerät ein und in Dorneichs Kopf öffnete sich die dunkle Schublade mit seinem Katastrophenbericht.

1956. Dorneich ist 20 Jahre alt. In Rom wird das Heilige Jahr gefeiert. Es scheint in sein Vorhaben zu passen. Er fährt erst in die ewige Stadt, um dann nach Genua weiterzureisen. Dort will er die Andrea Doria besteigen. Sie soll ihn gemeinsam mit anderen internationalen Stipendiaten in die USA bringen. Es ist die erste Überseereise seines Lebens. „Die Umstände dieser Route und der Weg übers Mittelmeer waren zu verlockend, also entschied ich mich gegen Bremen und für die Andrea Doria,“ sagt er heute.

Die Reise des italienischen Luxusliners nach New York verläuft planmäßig bis zum Abend des 25. Juli. Es ist kurz nach 23 Uhr. Die Musikkapelle an Bord spielt gerade den Hit der Saison, als plötzlich ein Funkenregen den schwarzen Himmel erhellt. New York ist nicht mehr fern. Einige Passagiere halten in diesem Moment bereits Ausschau nach der leuchtenden Fackel der Freiheitsstaute, von der sie annehmen, sie müsse bald auftauchen. Ein dichter Nebel hatte sich am Abend wie ein grauer Mantel über den Atlantik gelegt. Die Sicht ist miserabel als aus dem grauen Nichts ein stummes Schiff vor ihnen auftaucht. Die Befehle aus den Kommandobrücken kommen zu spät. Unbeindruckt von der Panik der wachhabenden Offiziere stopft der schwedische Passagierdampfer Stockholm seinen stoischen Bug in die weiche Flanke der italienischen Schönheit. Die Körper der Schiffe verbeißen sich ineinander. Ein metallenes Kreischen legt sich über die einsame Nacht.

Der dänische Passagier Thure Peterson berichtet später, er habe in diesem Moment den Rumpf der Stockholm mitten durch seine Kabine gleiten sehen, während die großen Buchstaben des Schiffnamens gespenstisch vor seinen Augen vorbeifuhren. Mindestens zehn Menschen werden sofort durch den Bug der Stockholm zermalmt. Insgesamt 49 Tote wird man später zählen. Die Kapitäne hatten versehentlich ihre Schiffe im Nebel aufeinander zugesteuert. Wer heute das Bild der schwerverwundeten Stockholm sieht, wundert sich, wie dieses Schiff noch 600 Passagiere der Andrea Doria zu seinen eigenen 500 aufnehmen und nach New York transportieren konnte: ganze 15 Meter ihrer Schnauze waren durch die Kollision weggerissen worden. Es ist 23.17 Uhr als Klaus Dorneich im Moment der Katastrophe auf seine Uhr schaut. Die Musikband des italienischen Schiffes spielt „Arriverderci Roma”.

Elf Stunden später verfolgt Dorneich vom Bord der Stockholm den Untergang des italienischen Stolzes. Er schreibt in sein Notizbuch: „Die Andrea Doria hat sich inzwischen ganz auf die Seite gelegt … Es ist ein grandioser Anblick … Langsam beginnt das Vorderteil abzusacken, und das Heck hebt sich steil aus dem Wasser … Noch einmal bäumt sich das Heck auf und dreht sich um die eigene Achse; noch einmal können wir die großen Buchstaben am Heck des Schiffes sehen, dann bezeichnet nur noch ein brüllender und schäumender Gischtfleck die Stelle, wo … das Flaggschiff der italienischen Amerika-Linie, ihr Ende fand …”

2006. Die Katastrophe jährte sich im Juli zum 50. Mal. Berichtet Dorneich heute über die Katastrophe, wirkt er nicht kühn oder gar prahlerisch. „Ich habe damals in keinem Moment mit meinem Tod gerechnet,” sagt er nüchtern. Zwei Tage hat die Stockholm nach der Kollison bis New York benötigt. „Wahrenddessen habe ich in mein Notizbuch geschrieben. Es war das Einzige, was mir geblieben war.”

Aus Dorneichs Notizen von damals sind heute 18 Treatments zu einem Drehbuch geworden. Die Andrea Doria liegt in finsteren 70 Meter Tiefe vor New York. Sein Drehbuch lagert derweil im dunklen Tresor seines Anwalts. Klaus Dorneich wird 76 Jahre alt.