ENDE der DURCHSAGE

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Gibt es ein einziges Privileg, das der Migrant für sich in Anspruch nehmen kann, besteht es darin, in der Mehrheitsgesellschaft angekommen den kühlen Blick des Fremden auf die neue Realität zu bewahren.

Neulich habe ich das Buch eines DDR-Einwanderers in die Hände bekommen, ich habe es in wenigen Stunden durchgelesen, das passiert mir selten. Meine Eltern sind in den 50er-Jahren aus Italien nach Deutschland emigriert. Wie Birk Meinhardt bin auch ich Journalist. Als ich 1985 mein Volontariat begann, lag die Quote von Einwanderern in deutschen Medien bei fast Null. Man bescheinigte mir eine großartige „Anpassungsleistung“ – so wie Meinhardt später, als würde man von einem Einwanderer reden, der es in der Aufnahmegesellschaft zu Ehre gebracht hat.

Meinhardt beschreibt das so ähnlich in seinem Buch. Er ist in Ost-Berlin geboren. Nach der Wende engagiert ihn die Süddeutsche Zeitung. Über 20 Jahre lang arbeitet er für das, was er lange für das journalistische Paradies hält. Er macht Karriere als Sportredakteur, später als Reporter der Seite Drei. In dieser Zeit gewinnt er zwei Kischpreise (1999 und 2001). Doch bald darauf beginnt seine Entfremdung von Zeitung und Redaktion: 2004 schreibt Meinhardt eine, rückblickend betrachtet, visionäre Geschichte über die Folgen des Investmentbankings der Deutschen Bank. Sie erscheint nicht, weil das Wirtschaftsressort der SZ interveniert, wie er in seinem Buch behauptet (2008 kam es dann tatsächlich zum Finanzcrash). 2010 schreibt er eine Reportage über zwei Rechtsextreme aus dem Osten Deutschlands, die zu Unrecht verurteilt worden waren. Auch sie wird nicht veröffentlicht. Meinhardt erinnert sich: Bei der FDJ-Zeitung, für die er in der DDR gearbeitet hat, wurden Artikel mit der Begründung abgelehnt‚ sie spielten dem Klassenfeind in die Hände. Bei der SZ hörte er jetzt: Sein Artikel könnte von Rechten dafür vereinnahmt werden, dass sie verfolgt würden. Meinhardt druckt alle drei nicht veröffentlichten Texte in seinem Buch ab.

Birk Meinhardt: Wie ich
meine Zeitung verlor, Eulenspiegel,
Berlin 2020, 144 Seiten, 15 Euro

Birk Meinhardt: Wie ich meine Zeitung verlor, Eulenspiegel, Berlin 2020, 144 Seiten, 15 Euro

Meinhardt ist ein Logiker, ein Sezierer, er zerlegt mit kühler Wut. Wort um Wort türmt er die Mauer der Kritik an Redaktion, Ressortleitung und Chefredaktion auf bis da kein Weg mehr ist, der ihn mit seiner Zeitung zusammenführen kann. Am Ende erträgt er nicht mehr, wie von Redakteuren Haltungen eingenommen werden, die wenig mit der Realität zu tun haben, der sich der Journalismus eigentlich verpflichtet fühlen müsste. Meinhardt wirft Fragen nach der Konstruktion von Wirklichkeit auf: Wie viel Haltung verträgt Journalismus? Verstärken Leitmedien Trends, die sie zugleich verdammen? Sind Qualitätsmedien für die Radikalisierung der Gesellschaft mitverantwortlich? Wie findet man in einer Welt der immer stärker konkurrierenden Medienrealitäten die Wahrheit?

Redaktion und Reporter trennen sich 2017. Natürlich aber bleibt die Sache mit der Wirklichkeit so eine Sache: Wäre dieser Text eine ausgewogene Buchkritik, müsste ich jetzt Meinhardts Klage der Position der SZ-Chefredaktion gegenüberstellen. Doch dazu ist schon vieles erschienen: Meinhardts Buch ist nicht nur in den gängigen Feuilletons mit genau dieser Stoßrichtung besprochen worden, was die SZ-Chefredaktion dazu bewegt hat, staatsmännische Statements abzugeben, um Meinhardts Wut abzulöschen.

Bei Qualitätsmedien gab es schon immer unterschiedliche Typen von Journalisten, darunter auch schon immer zweifelhafte: Manipulateure, Ideologen, Politdiener, Promischleimer, Selbstdarsteller und Absahner. Unter den seriösen gab es schon immer die Aktenfresser, die jedes Detail kennen, das große Ganze aber nicht beschreiben können. Es gab auch schon immer die Generalisten, die über das große Ganze bescheid wissen, aber die Details vernachlässigen. Doch gleichgültig wie anfechtbar die Arbeit dieser Journalisten schon immer war, selten wurde eine Debatte über sie angestoßen, keiner hat deren Auslassungen, Verzerrungen und Unklarheiten, die es schon immer gab, ernsthaft in Zweifel gezogen.

Meinhardt tut es, aber er rechnet nicht ab. Allein deswegen finde ich das Buch großartig, weil er den Konflikt mit seiner Zeitung in einer Art Selbstbefragung konstruiert und der Leser so nicht nur Einblick in seine inneren Kämpfe erhält, seine Widersprüche und Unklarheiten. Mehr denn je ist heute ohnehin Klarheit die Ausnahme, Unklarheit ist die Regel. Immerzu entstehen neue öffentliche Erregungszustände, die der Journalismus beklagt, obwohl er zugleich Erzeuger dieser Pop-Up-Wirklichkeiten ist. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht um die Deutung der Wirklichkeit ein Meinungskrieg in den Medien ausbricht. Sieger in diesem Wettbewerb um Aufmerksamkeit ist derjenige, der möglichst schnell möglichst viele Menschen um die Identitätsblasen gruppiert. So entstehen aus losen Meinungen Haltungen. Ersetzt Haltung aber die Wirklichkeit, wird die Realität zugunsten der Überzeugung verbogen, schreibt Meinhardt.

Darf man ein Buch großartig finden, das die Fäulnis im Journalismus beklagt, aber dafür von den Falschen beklatscht wird? Kürzlich ist Meinhardts Buch im Dresdener Buchhaus Loschwitz besprochen worden, einem Buchhandel, der als intellektueller Knotenpunkt der Neuen Rechten bekannt ist. Gäste der Runde waren Ellen Kositza (Journalistin, Ehefrau des rechten Verlegers Götz Kubitschek), Martin Sellner (Rechtsextremist, Die Identitären) und Gastgeberin Susanne Dagen. Im November 2020 sollte Meinhardt dann im Buchhaus noch eine Lesung halten. Sie war ausverkauft, fand aber wegen Corona nicht statt.

Erschienen in der Rubrik „Ausgelesen“ des Schweizer Magazins Reportagen #56, http://www.reportagen.com